Es ist Mittwochvormittag, kurz vor elf. Durch die Fester des großen Vortagssaales im Schützenhof fällt die milde Wintersonne, die Stuhlreihen füllen sich langsam mit interessierten Gästen und zahlreiche Journalisten werben um die Aufmerksamkeit des Forscherteams um Prof. Dr. Hans Vorländer. Weniger angenehm als diese Eingangsszene ist der eigentliche Anlass der Veranstaltung: fast genau ein Jahr nachdem die Landeszentrale mit der Bereitstellung ihrer Räume für eine Pegida-Pressekonferenz für nationales und internationales Aufsehen gesorgt hat, sind an diesem Tag Prof. Dr. Hans Vorländer, Maik Herold und Dr. Steven Schäller geladen, um mit ihrem neuen Buch "PEGIDA - Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung" die Ergebnisse der ersten systematisch-wissenschaftlichen Analyse des Phänomens Pegida zu präsentieren.
"Dies ist keine normale Buchvorstellung"
Nachdem die Türen geschlossen sind und das Autorenteam am Podium Platz genommen hat, hält Direktor Frank Richter sein Grußwort. Was an diesem Vormittag in der Landeszentrale stattfindet, "ist keine normale Buchvorstellung", so beginnt er seine Ausführungen. Zum einen, weil das Thema von außerordentlicher lokaler Brisanz ist, zum anderen, weil die Beschäftigung mit dieser Bewegung seit dem Aufkommen Pegidas im Herbst 2014 eine Hauptaufgabe für die sächsische Landeszentrale geworden ist.
Die Abwägung, wie man mit dieser Bewegung umgehen solle, war keine einfache. Man entschied sich für Gesprächsangebote statt reiner Abgrenzung, wollte mit den Menschen in Kontakt treten, um sie nicht völlig zu verlieren. Nicht selten wurde die Landeszentrale für ebendiese Dialogbemühungen kritisiert - "mit Pegida redet man nicht" hieß es vielfach und alle jene, die den Dialog dennoch antraten wurden als "Pegidaversteher" diffamiert.
Das Buch soll nun ein Zwischenfazit stellen, es ist als gemeinsames Projekt der sächsischen Landeszentrale und der TU Dresden zu sehen, da die beiden Institutionen im vergangenen Jahr das Krisenmanagement rund um die politische Kultur der Stadt Dresden gemeinsam bewältigt haben. Vielfach hat Prof. Hans Vorländer die Landeszentrale bei dem Thema Pegida fachlich begleitet und gemeinsame Projekte verwirklicht. Auch bei der umstrittenen Strategie, das Gespräch mit Organisatoren und Unterstützern zu suchen, anstatt sie totzuschweigen, war der renommierte Politikwissenschaftler vielfach beratend tätig.
Nach weiteren Worten des Dankes und der Vorstellung tritt Frank Richter vom Rednerpult zurück und Prof. Vorländer übernimmt das Wort.
Fünf zentrale Erkenntnisse über Pegida
Dem wissenschaftlichen Anspruch gemäß vermeidet "PEGIDA - Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung" monokausale Erklärungen für Entstehung und Verlauf der Bewegung. Um das Buch in aller Kürze vorzustellen, konzentriert sich Vorländer in seinem Vortrag auf fünf zentrale Ergebnispunkte der Analyse.
Diffuse und konkrete Ressentiments
Erstens lässt sich feststellen, dass "Pegida" inzwischen ein Sammelbegriff für alle möglichen Anti-Migrationsbewegungen geworden ist. Im gesellschaftlich-medialen Diskurs wird Pegida häufig in Zusammenhang mit der Alternative für Deutschland (AfD) genannt. Die beiden Gruppen weisen große Überschneidungen, Konvergenzen und wechselseitige Verweise auf - es ist insofern nicht abwegig, die AfD als institutionalisierten Zweig der neuen deutschen Rechten zu sehen. Des weiteren muss auch gesagt werden, dass Pegida an sich keine einheitliche Bewegung ist - weder personell, motivational oder organisationell. Das von der Bachmann-Gruppe ins Leben gerufene Pegida Dresden ist zudem anders als Pegida-Ableger in anderen Städten, die überwiegend von neonazistischen Gruppen gegründet wurden. Geeint werden diese Gruppierungen durch ihre diffusen und konkreten Ressentiments gegen Migranten und Asylsuchende.
Entwicklungsphasen
Im zweiten Punkt geht Vorländer auf den Verlauf von Pegida Dresden ein. Die Startphase der Bewegung im Oktober und November 2014 lässt sich großteils durch verstärkte Berichterstattung über den IS-Terror sowie lokale Nachrichten über städtische Pläne der Asylunterbringung erklären. Die schnelle Wachstumsphase im Dezember und Januar 2014 ist als Trotzreaktion auf die hohe negative Aufmerksamkeit durch Politik und Medien zu werten. Auf den einstweiligen Rückzug Bachmanns und die Reorganisation der Führungsriege folgt eine schleppende Phase im Sommer 2015. Die Einladung des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders im April 2015 gilt als Etablierungsmerkmal und als erstes Anzeichen der aktuellen Trends der Radikalisierung und des (versuchten) Schulterschlusses mit neurechten Bewegungen in ganz Europa. Durch die Zuspitzung der Flüchtlingskrise seit August 2015 wurde Pegida ein "zweites Leben" eingehaucht: die diffusen Ressentiments wandelten sich in konkretere Protestthemen und die Rhetorik verschärfte sich deutlich.
Im Kreis Gleichgesinnter
Im Weiteren klärt der Politikwissenschaftler darüber auf, was Pegida konkret ist und was Teilnehmer motiviert, bei den Demonstrationen mitzulaufen. Neben den vulgärdemokratisch artikulierten Aversionen gegen die mediale und politische Elite zeichnet sich Pegida besonders durch seine Instrumentalisierung öffentlicher Plätze und seine geschickte Navigation zwischen virtuellen und realen Räumen aus. Die symbolträchtige Kulisse der Dresdner Altstadt wird von den Organisatoren sehr gezielt genutzt, um öffentlichkeitswirksam ikonische Bilder zu erzeugen, die wiederum auf den äußerst aktiven Social-Media-Plattformen (allen voran Facebook) mehr Sympathisanten zur Teilnehme ermuntern. Auf diese Weise gewinnt Pegida an Dynamik, die sich in der quasi-rituellen montäglichen Demonstration manifestiert.
Der rituelle Charakter der Bewegung ist zentral für die Analyse Pegidas - die Ergebnisse der Studie zeigen, dass ein Großteil der Teilnehmer an der Demonstration vor allem auch den sozialen Charakter schätzen und Pegida als Event verstehen. Viele wollen ihre Einsamkeit und Sorgen im Kreis Gleichgesinnter entfliehen. Emblematisch dafür sind beispielsweise die vielen Demonstranten, die bei der Schlusskundgebung nicht den Rednern zuhören sondern gesellig mit Bekannten im Kofferraum ihrer Autos sitzen und sich biertrinkend über alles Mögliche unterhalten.
Sächsischer Chauvinismus
Vorländer legt anschließend dar, warum ausgerechnet Sachsen der Ursprungsort Pegidas geworden ist. Tatsächlich ist es so, dass das PR-versierte Organisationsteam um Lutz Bachmann vorab eine Stadt mit prächtiger Fotokulisse gesucht hat, um eben jene Dynamik zwischen virtuellen und realen Räumen zu erzeugen, die Pegida groß gemacht hat. Der imposante Barock der Dresdner Altstadt war dafür ideal, weil er Aufmerksamkeit auf sich zieht und im Sinne der herausragenden Kunstfertigkeit der abendländischen Hochkultur stilisiert werden kann. Als weitere Gründe nennt der Professor sächsischen Ethnozentrismus und Chauvinismus sowie den für eine deutsche Großstadt stark konservativen Charakter Dresdens. Auch die Ost-West-Verwerfung und das daraus resultierende Misstrauen in die "westdeutsche" Politik stellt er als zentrales Problem heraus.
Ankopplung an neurechte Intellektuelle
Die abschließenden Betrachtungen beschäftigen sich damit, wo Pegida heute steht und was die Zukunftsaussichten der Bewegung sind. Pegida hat jetzt - anders als in der "wutbürgerlichen" Entstehungsphase - ein sehr klares Profil: es versteht sich als konkret wirksame Anti-Migrations- und Flüchtlingsbewegung. Die Radikalisierung der Rhetorik zeichnet sich durch systemumstürzerische Suggestionen aus ("Ausmisten" der Politik- und Medienelite, "Zurückeroberung" Europas). Die Ankopplung an neurechte Intellektuelle wie Akif Pirinçci sowie agitatorische Aktionen wie Götz Kubitscheks 1%-Initiative beschwören Pegida zu einer völkisch-revolutionistischen Bürgerbewegung herauf.
Perspektivlosen jungen Männern und "Besserwessis"
Nach dem Vortrag moderiert MDR-Journalist Tim Deisinger die Fragerunde, bei der auf Nachfragen aus dem Publikum noch weitere Sachverhalte erläutert werden. Als zentral stellt sich beispielsweise die Stadt-Land-Verwerfung heraus, die in Sachsen besonders prominent ist und sich auch in der unterschiedlichen politischen Kultur widerspiegelt. Die Großstädte Dresden und Leipzig haben eine positive Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung und haben sich in den letzten Jahren zu renommierten Universitätsstandorten entwickelt, die junge Akademiker aus ganz Deutschland anziehen. Demgegenüber steht die Strukturschwäche des ländlichen Raumes, wo es immer weniger gute Arbeitsplätze und einen Überschuss an perspektivlosen jungen Männern gibt. Viele dieser Männer suchen Schuldige für ihre unbefriedigende Situation in der Politikelite und machen daher einen Großteil der Pegidateilnehmer aus. Desweiteren ist es ein Problem, dass an den Gegenbewegungen zu Pegida ein überproportionaler Anteil an Akademikern und Westdeutschen beteiligt ist, was das Feindbild des bevormundenden "Besserwessis" bestätigt und eine Trotzrektion hervorruft.
"Man kann das System kennen und trotzdem dagegen sein"
Im Bezug auf die Bemühungen der politischen Bildungsarbeit lässt sich sagen, dass es viele Angebote gibt und gab (so hat die Landeszentrale im vergangenen Jahr über 50 Bürgerversammlungen in sächsischen Kommunen organisiert), jedoch Ressentiments gegen das politische System und Migrationspolitiken überwiegend affektiv und daher durch Bildungsmaßnahmen nur bedingt beilegbar sind. Pegida stammt auch aus einem sehr profunden Gefühl der Unterdrückung und ist nicht primär durch Unverständnis der politischen Institutionen zu erklären. "Man kann das System kennen und trotzdem dagegen sein" resümiert Direktor Frank Richter auf die Frage nach Verantwortlichkeiten, Herausforderungen und Möglichkeiten der politischen Bildung in Sachsen.
Auf die Frage, wie man Pegida beenden könne, kommentieren Vorländer, Herold und Schöller, dass sich die Bewegung nur "erschöpfen" oder "festlaufen" kann. Im politischen Spektrum gibt es keinen Platz für eine Pegidapartei, weil das Feld bereits durch die AfD bestellt ist und diese aktiv versucht, das Potential Pegidas abzuschöpfen, um "einen Arm auf der Straße" zu haben.
Die abschließenden Worte kommen an diesem Vormittag von Direktor Frank Richter. Pegida sei "eine harte Lektion, die der Osten Deutschlands gerade macht, aber gerade deshalb auch eine große Chance, um zu zeigen, dass Demokratie fähig ist, Probleme zu lösen".