Rupert Neudeck sähe Kirche und Staat am liebsten deutlicher voneinander getrennt. "Das wäre besser als diese Mischform, die wir bei uns haben. Da weiß man nicht, wo hört Kirche auf und fängt der Staat an", meint der 75-jährige Journalist und Cap-Anamur-Gründer. Den Katholizismus in Frankreich beispielsweise habe er als sehr tolerant kennengelernt. Dies komme daher, weil er keine Macht im Staat besitze, betont Neudeck, der selbst Katholik ist. "Ich bin überzeugt, Religion würde mehr wachsen, wenn Kirche und Staat deutlicher getrennt wären."
Das könne einer, der als Katholik einen Kirchenstaat im Rücken habe, leicht sagen, meint Ulrich Schacht freundlich stichelnd. Der 63-jährige Schriftsteller, politischer Häftling in der DDR, seit Ende der Neunziger in Schweden lebend, ist evangelischer Christ. Für ihn wiederum geht es in Deutschland nicht ohne die Besinnung auf das Christentum als Wurzel unseres Wertesystems. Selbst wenn nicht alle Menschen einer christlichen Kirche angehören. Normen und Werte der Gesellschaft könnten weder Parteien noch staatliche Institutionen begründen. Die Verbindung zum Christentum sei die letzte Sicherung, um eine "Glücksdiktatur" unter dem Dogma der Vernunft zu verhindern.
Religion ist eine Möglichkeit
Wilfried Schulz wiederum glaubt nicht, dass sich die Normativität einer Gesellschaft allein auf Religion begründet. Der Intendant des Dresdner Staatsschauspiels, Jahrgang 1952, in Westdeutschland aufgewachsen, verweist auf das viele Unglück in der Geschichte, das entstand, als Staat und Kirche allzu eng zusammen wirkten. "Kirche ist gut beraten, Offenheit zu haben."
Drei konträre Positionen, exemplarisch für die Gegenwart. Zur Diskussion über Macht, Religion und Politik hatte die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) bei ihrer Jahreskonferenz in Dresden eingeladen. Ob es in der Politik auch ohne Religion gehe, fragte deren Leiter Frank Richter als Moderator.
In anderen Kulturen außerhalb Europas sehe das schon ganz anders aus als hierzulande, meint Rupert Neudeck. "Für die Mehrheit der Menschen auf der Welt ist Religion Teil ihrer Existenz. Wenn jemand von uns sagt: Ich glaube an gar nichts, ist das für sie ebenso, als würde sich jemand ein Bein abhacken und sagen: Das ist mir egal."
Kann Religion schützen?
Wilfried Schulz betrachtet Religion als ein Angebot unter vielen zur Orientierungshilfe. Er traut jedem zu, sich sein Wertesystem selbst bilden zu können, mit dem er sein Leben lebenswert gestaltet. "Eine Schwäche der Religion ist, dass sie sich absolut setzt, als einzige Möglichkeit der Selbstdefinition."
Ulrich Schacht hingegen erinnert an die Diktaturen des 20. Jahrhunderts - für ihn Gesellschaften, welche die Welt ohne das von der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen geprägte Christentum beglücken wollten. Heute gehe mit der alles durchdringenden Ökonomisierung die christlich-abendländisch geprägte Kultur den Bach runter, so Schacht. "Die Gegenwart ist konditioniert vom Angriff materialistischen und atheistischen Denkens. Das versucht alle Standards auszuhebeln."
Dr. Tomas Gärtner ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Kirche, Staat, Religion