Das Hotel Lux und der Volksaufstand am 17. Juni 1953

Anfang Juni trafen sich in Schmochtitz bei Bautzen historisch Interessierte, Wissenschaftler und Zeitzeugen, um über den Volksaufstand am 17. Juni vor 70 Jahren zu sprechen. Ein Thema bei diesem Seminar war die Rolle Stalins bei der Vorgeschichte des Aufstandes.

 

Im Herbst 1944 prophezeite der damals im Schweizer Exil lebende Sozialdemokrat und spätere Bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner die Bolschewisierung einer künftigen Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Dazu würden sich die Sowjets vor allem der aus Ostdeutschland stammenden Kommunisten bedienen. Zahlreiche KPD-Funktionäre befänden sich im sowjetischen Exil und bereiteten sich auf diese Aufgabe vor, so Hoeger. Er warnte, die Gegner des Kommunismus in Deutschland würden dann genauso verfolgt und liquidiert werden, wie das in der UdSSR sowie in den damals sowjetisch besetzen Gebieten Polens und im Baltikum der Fall war.

Hauptquartier Hotel Lux

Hoegner behielt in Bezug auf Stalins Plänen für die SBZ Recht. Stalins Vorhaben waren aber noch viel weitreichender. Mithilfe der damals großen kommunistischen Parteien wollte der Diktator zunächst auch den Westen Deutschlands und Westeuropa erobern und verändern. Später sollte die restliche Welt folgen.

Das Moskauer Hotel Lux spielte bei diesen Plänen eine zentrale Rolle. Zwischen 1933 und 1945 war das ehemalige Luxushotel ein beengter Zufluchtsort für hunderte vor den Nazis geflüchteten Sozialdemokraten und Kommunisten aus ganz Europa. Im Kontext stalinistischer Säuberungswellen wurde es jedoch auch zu einem Ort von Intrigen, Verfolgung und Terror. Die Bewohner waren längst keine normalen Hotelgäste mehr, sie standen unter der Aufsicht des Geheimdienstes NKWD und viele von ihnen verschwanden in dessen Lagern.

Das Hotel Lux wurde zur stalinistischen Kaderschmiede und einer Art Hauptquartier der Weltrevolution. Aus den Lux-Emigranten gingen einige spätere osteuropäische Partei- und Staatschefs hervor: Klement Gottwald (1948-1953 Präsident der Tschechoslowakei), Rudolf Slansky (1945-1951 Generalsekretär der KP der Tschechoslowakei), Josip Broz Tito (Generalsekretär der jugoslawischen KP und 1953-1980 Präsident Jugoslawiens), Georgi Dimitroff (1946-1949 bulgarischer Ministerpräsident), Imre Nagy (1953-1955 ungarischer Ministerpräsident) und Boleslaw Bierut (1947-1952 Staatspräsident der Volksrepublik Polen).

Stalins deutsche Statthalter

Die größte Gruppe im Hotel Lux stellten deutsche Emigranten. Zentral für die Entwicklung in der späteren SBZ/DDR war eine Gruppe um Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Markus Wolf. Diese Gruppe überstand alle Säuberungswellen, galt als von Stalin auserwählt und erfuhr eine besondere Ausbildung und Radikalisierung. Als sie am 1. Mai 1945 nach Deutschland zurückkehrten, beschrieb Ulbricht den Auftrag: „Es ist doch ganz klar: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Mit Hilfe dieser Gruppe von Moskauer Emigranten etablierte die sowjetische Besatzungsmacht eine Diktatur in Ostdeutschland.

1949 hielt es Stalin für angebracht, der SBZ „formal“ die Unabhängigkeit in Form der DDR zu gewähren. Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht sowie der designierte Ministerpräsident Otto Grotewohl wurden nach Moskau einbestellt. Dort besprachen sie mit Stalins Vertrauensleuten alle zentralen Fragen zur weiteren Gestaltung Ostdeutschlands im Sinne Stalins. Schriftlich wurde das künftige Verhältnis beider Länder, die Zukunft der sowjetischen Präsenz und der „Speziallager“, aber auch die finanzielle Unterstützung der westdeutschen KPD vereinbart.

Der Plan zum Aufbau einer kommunistischen DDR fand in weiten Bevölkerungsteilen nur wenig Zustimmung. Enteignungswellen und politische Verfolgung waren nur die Spitze zahlreicher politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Maßnahmen, mit denen Ostberlin die Absichten Moskaus durchzusetzen versuchte. Viele Ostdeutsche widersetzten sich - entweder, indem sie in die westlichen Besatzungszonen flüchteten, oder protestierten. Unmutsäußerungen und Arbeitsniederlegungen gehörten bereits vor dem 17. Juni 1953 zum Alltag in der SBZ/DDR.

Unfähigkeit zur Selbstkritik

Stalins Tod im März 1953 verursachte ein politisches Erdbeben auch in der DDR. Moskau drängte mit vorübergehenden Maßnahmen auf eine Stabilisierung der Verhältnisse. So wurde der DDR-Führung ein „neuer Kurs“ verordnet, inklusive ritualisierter Selbstkritik und Schuldeingeständnissen seitens der Staatsspitze. Diese Maßnahme wirkte aber - anders als beabsichtigt - destabilisierend. Der stalintreuen DDR-Führung war es unmöglich, Fehler einzuräumen - und zwar erst recht die Fehler, die eine Konsequenz aus Stalins Befehlen waren. Der im Hotel Lux antrainierte Dogmatismus blockierte den politischen Handlungsrahmen. So wurde eine abermalige Normerhöhung für Bauarbeiten vorerst nicht zurückgenommen, was zum Auslöser für den Volksaufstand wurde. Eine Gruppe von Bauarbeitern protestierte daraufhin in einer Eingabe an Ministerpräsidenten Otto Grotewohl am 15. Juni 1953 gegen das Fortbestehen der Anordnung. Als sie darauf keine Antwort erhielten, streikten sie am 16. Juni 1953. Eine Delegation wurde beauftragt, sich ins Haus der Ministerien in Berlin zu begeben, um eine Antwort auf ihre Eingabe zu verlangen. 

Dieser Vorgang verbreitete sich unter den Ostberliner Bauarbeitern wie ein Lauffeuer. Viele von ihnen und auch andere Arbeiter schlossen sich der ursprünglich kleinen Delegation an. Als der Protestzug vor dem Haus der Ministerien ankam, war er auf über 10.000 Menschen angewachsen. Sie forderten nun die grundsätzliche Verbesserung der Lebensverhältnisse in der DDR sowie freie Wahlen, den Rücktritt der Regierung Grotewohl und die deutsche Einheit in Freiheit.

Vom Streik zum Volksaufstand

Westberliner Journalisten berichteten über diese Vorgänge. In der Folge schlossen sich noch mehr Frauen und Männer den Protesten an. So wurde aus einem Streik Ostberliner Bauarbeiter ein Volksaufstand in der DDR – und damit der erste Volksaufstand im von Moskau angeführten sozialistischen Lager.  

Zwischen dem 16. und dem 21. Juni 1953 gab es in mehr als 700 Orten der DDR, darunter in allen großen und fast allen mittelgroßen Städten, Aufstände mit insgesamt mehr als einer Million Beteiligten. Mehr als 1.000 Betriebe wurden bestreikt, über 250 öffentliche Gebäude wurden von den Demonstrierenden gestürmt. Nach Schätzungen wurden 1.500 politische Häftlinge befreit. Neben der Proklamation der oben aufgeführten Forderungen, machten die Aufständischen vielerorts auch ihrem Protest gegen das SED-Regime und dessen Funktionären Luft.

Als die DDR-Führung die Kontrolle verlor, reaktivierte Moskau seine Rechte als Besatzungsmacht. Es verhängte in 167 von 217 Landkreisen den Ausnahmezustand, verkündete das Kriegsrecht und lies Panzer rollen. Mit Unterstützung der Kasernierten Volkspolizei wurde der Volksaufstand niedergeschlagen. Es starben 50 Menschen und 15.000 Personen wurden festgenommen. Mit Hilfe Moskaus blieb Ulbricht an der Macht und letzte liberale Kräfte wurden aus Führungspositionen entfernt. Der Überwachungs- und Repressionsapparat wurde ausgebaut. Bis 1954 ergingen unter der Ägide von Justizministerin Hilde Benjamin 1.526 drakonische Urteile gegen die „Rädelsführer“, teilweise zu lebenslanger Haft.

Der 17. Juni 1953 wurde zum Trauma für die DDR-Führung. Angesichts der Massenfluchten und Proteste fragte Stasi-Minister Mielke im August 1989: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Wenig später war die DDR Geschichte.

Der Volksaufstand von 1953 war ein Ruf nach Freiheit und Selbstbestimmung. Sein hoher Stellenwert für die Nachkriegs- und Demokratiegeschichte war damals kaum abzuschätzen. Mit dem 17. Juni 1953 begann eine Reihe weiterer Aufstände in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei bis hin zum Zerfall der kommunistischen Herrschaftssysteme in Mittel- und Osteuropa 1989/90.