Am 10. November 2013 reise ich in eine unbekannte Region, von der ich in den letzten Monaten sehr viel gehört habe: Gaziantep an der syrisch-türkischen Grenze. Ich bin Teilnehmer bei einem internationalen Workshop. Das Thema sind (Bildungs-)Chancen unterdrückter Personengruppen - nicht nur im klassischen Sinne. Es geht auch um Menschen, denen z.B. Kriege die Bildungschancen nehmen. Hier in der Region geht es ganz konkret um Flüchtlinge des syrischen Bürgerkriegs.
Statt Elend neue Computer
Auf dem Programm steht auch der Besuch einer Flüchtlingsschule in Gaziantep. Ich besuche nicht das erste Mal eine Flüchtlingsschule oder ein Flüchtlingslager. In den Palästinenser-Gebieten in Bethlehem war ich vor sechs Jahren das erste Mal in so einer Einrichtung: meterhohe Mauern, Armut und Perspektivlosigkeit. Zwei Jahre später im Sudan die gleichen Eindrücke mit einem Mehr an Armut. Mit diesen Bildern im Kopf fahre ich in einen entlegenen Stadtteil von Gaziantep.
Der Kleinbus hält zwischen frischen Fassaden. "Wir sind angekommen. Lasst uns aussteigen." Die Verwirrung war in so ziemlich allen Augen ablesbar. Wo bitte sind hier Flüchtlinge? Wo die prekäre Situation von Menschen aus einem Katastrophengebiet? Schulleiter und Bürgermeister führen uns durch das neue Schulgebäude. Neuwertige Unterrichtsmaterialien, Schuluniformen und neuwertige PC's mit unbegrenztem Internetanschluss.
Auch hier ist Schneeberg ein Begriff
Um ehrlich zu sein, es wirkt fast zu gut, um wahr zu sein. Wir fragen bei einem Gespräch mit Flüchtlingen nach, ob alle Einrichtungen auf diesem Stand seien? Der Schulleiter will antworten, wird aber von einem älteren Herrn in fließendem Englisch unterbrochen: "Liebe Gäste, es ist schön, dass Sie die Zeit gefunden haben und zu uns gekommen sind und ich bin wirklich froh, dass sie als Vertreter Ihrer Nationen Anteil an unserem Schicksal nehmen, doch nehmen sie das Scheitern ihrer Staaten im Umgang mit Flüchtlingen nicht als Basis für Ihre Mutmaßungen, wie hier mit uns umgegangen wird. Hier sind wir Gäste. Wie man hört, ist man das in Deutschland oder Irland sehr oft nicht." Er zeigt uns eine Art Personalausweis. "Das ist meine Guestcard. Wir sind hier keine Flüchtlinge, wir sind Gäste und wir können uns innerhalb der Türkei frei bewegen. Das ist, soweit ich weiß, in einem Großteil ihrer Länder nicht möglich. Hier sind wir willkommen, hier gibt man sich Mühe und wir sind dem türkischen Volk dankbar."
Lange Ruhe. Ich denke an die Asyl-Diskussionen in Deutschland, in mir machen sich Wut, Traurigkeit und Verbitterung breit. Ich will mich für die Fragen entschuldigen. Megan aus Irland kommt mir zuvor: "Liebe Freunde. Schande über uns. Schande über die Europäische Union und ihre Staaten. Wir fühlen uns beschämt, dass ein Land, dass ärmer ist als unsere und welches wir dauernd kritisieren, uns über Humanität belehren kann."
Schonungsloser Kontrast
Deutlicher konnte man es nicht sagen. Die Türkei, deren Bevölkerung deutlich öfter von Armut betroffen ist als die deutsche, irische oder französische, gab bisher mehr als 1,5 Milliarden Euro für die Unterbringung und Bildung syrischer Flüchtlinge aus. Über eine Million Syrer wurden als Gäste aufgenommen. In Deutschland diskutieren wir über die Aufnahme von 10.000 Flüchtlingen. Schonungsloser kann der Kontrast kaum sein.
Nach dem Gruppengespräch spreche ich mit einer Lehrerin über ihre Flucht aus Aleppo. Fehlende Wasser- und Nahrungsmittelversorgung, die Umlagerung der Stadt durch das Militär und undurchsichtige Kampflinien sind ihre Fluchtgründe. Sie hat ihr Leben und das ihrer Kinder gerettet, ihr Mann musste zurückbleiben. Sie hat einen dringenden Wunsch: "Bitte vergessen Sie das syrische Volk nicht. Das Schlimmste wäre, wenn Sie uns vergessen."
Angst und Respekt
Tage nach dem Besuch in der Flüchtlingsschule und in weiteren Flüchtlingsunterkünften sitzen wir zur Abschlussrunde zusammen. Bulgaren, Deutsche, Polen, Rumänen, Iren und Türken. Ich berichte von meiner Arbeit und der Situation von Flüchtlingen in Deutschland. Dass es Proteste und Mahnwachen gibt, dass aber auch viele Menschen vor Ort helfen, den Aufenthalt angenehmer zu machen. Ich erzähle von der verbreiteten Angst vor Flüchtlingsströmen und der Behauptung, dass Flüchtlinge unsere Sozialsysteme ausnutzen.
Eine türkische Teilnehmerin antwortet. So gut, wie es in den letzten Tagen zu sehen war, sei es nicht überall in der Türkei. Es gäbe Unterschiede bei der Behandlung syrischer und afrikanischer Flüchtlinge. Auch in der Türkei gäbe es Unmut, auch Türken hätten Angst, dass ihnen die Flüchtlinge Arbeit und Perspektive nehmen. In der Türkei würden Flüchtlinge teilweise besser behandelt als Teile der eigenen Bevölkerung. Auch das Recht an einer Flüchtlingsschule einen Abschluss machen zu können und danach an einer türkischen Universität studieren zu können, sehen weite Teile der Bevölkerung kritisch, denn Flüchtlingsschulen sind oft besser ausgestattet als türkische. Aber Proteste, gar Mahnwachen oder Ausschreitung gäbe es nicht. Die Flüchtlinge hätten selbst genug Probleme - Ihnen wäre damit nicht geholfen.
Auch der Schulleiter sieht sich in der Verantwortung: "Unabhängig von den türkischen Behörden, sehe ich es als meine Aufgabe, den Kindern, die bereits jetzt viel durch den Krieg von ihrer Zukunft verloren haben, Perspektive zu geben. Leiden müssen sie. Ich möchte jedoch, dass sie für den Krieg, für den sie nichts können, nicht noch mit ihrer Zukunft bezahlen müssen."
In Gaziantep habe ich gelernt, wir sollten die Flüchtlingsdebatte weniger angstgeleitet führen. Wir können helfen! Menschen verlassen ihre Heimat mit triftigen Gründen, oft geht es um das blanke Überleben, aber auch die Aussicht auf Frieden und Entwicklungschancen lässt Menschen emigrieren. Wir sollten Flüchtlinge als Gäste begrüßen, Gäste, die loyaler nicht sein könnten, wenn wir ihnen helfen und mit Respekt begegnen würden.