"Historischer Bezugspunkt dieses Essays sind die Jahre der Französischen Revolution. Diese Übergangszeit um 1800 war eine Ära voller blutiger und beglückender Erfahrungen mit dem Kampf für die Freiheit, der Revolution und den nachfolgenden Koalitions-Kriegen. Fragen nach der kulturellen und politischen Nationsbildung der Deutschen und nach den Sinninstanzen, nach denen Menschen ihr Leben ausrichten, stellten sich angesichts der politischen Ereignisse in bis dahin so nicht vorhandener Radikalität. Es ging darum zu klären: Was ist der Mensch? Was konstituiert eine Gesellschaft der Individuen und was hält diese zusammen? Wie gestaltet sich das Verhältnis der Herrscher zu den Beherrschten? Wie können wir uns friedlich vereinigen und zugleich unterscheidbare Individuen bleiben? Wie erkenne ich im anderen den Mitmenschen? Wie steht der Mensch zu Gott?
Wir reden heute oft von Zivilgesellschaft, von der die einen sagen, diese sei verwirklicht, und die anderen, diese müsse erst noch verwirklicht werden. Schauen wir uns die basalen Werte zivilgesellschaftlichen Denkens und Handels aber an, so sind wir im bürgerlichen Wertehimmel des 18. und 19. Jahrhunderts angekommen; in den Menschenrechtsdebatten der Spätaufklärung und des Frühliberalismus, im Feld der pädagogischen Ideen um 1800, im Erlebnisraum zwischen der Amerikanischen Revolution und der deutschen 1848er-Revolte. Und wir erkennen, dass auch damals von klügeren und sensibleren Geistern Dialog und Geselligkeit als Königsweg zu Frieden und Freiheit verstanden wurden.
Nun aber PEGIDA: Sicher keine Revolution, noch nicht einmal eine Bewegung, sondern eher ein Aufbegehren, von dem man nur hoffen kann, dass sich der Wille zur Gewalt künftig eher wieder auf Worte beschränkt – was jedoch für unsere politische Kultur schlimm genug ist. Pegida nutzt die Freiheiten unserer offenen Gesellschaft, um für Einschränkungen von Grundrechten, die Reduzierung von Zuzugsmöglichkeiten und die Abwehr „des Fremden“ zu werben. Sie usurpiert die Fahne des 20. Juli, die sogenannte „Wirmer-Flagge“, und skandiert „Wir sind das Volk“ – so als wären diejenigen, die das 1989 gerufen haben, für eine Abschottung Ostdeutschlands oder volksgemeinschaftliche Wertideen auf die Straße gegangen. Pegidas Redner und Protagonisten nutzen das freie Wort zur Hetze gegen all diejenigen, die nicht ins vorgeblich abendländische Weltbild passen.
Befreiung durch Aufklärung
Seit Beginn der Pegida-Demonstrationen hängt am Dresdner Kulturpalast ein Zitat: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, / Bewahret sie! / Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!“ Die vorbeieilenden, einkaufenden Bürger oder die montagsdemonstrierenden „besorgten Bürger“ werden wohl denken, dass in ihren Händen die Würde der Menschheit liegt… bei Friedrich Schiller aber waren damit eigentlich die Künstler gemeint. Denn seine Frage, wie man mündig zur Freiheit werde, fand bei ihm selbst die Antwort, dass es die Schönheit ist, durch die wir zur Freiheit wandern, und dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spielt, also sich ästhetisch erfährt. So war die Antwort deutscher Gebildeter auf die moralisch-ethische Krise der eigenen Gesellschaft wie die der revoltierenden französischen Nachbarn primär eine kulturelle. Die deutschen Intellektuellen um 1800 setzten emphatisch auf Kunst, Kultur und Bildung zur Selbsthumanisierung des Menschen. Sie wollten sich also um ein vorpolitisches Fundament des noch zu erringenden freiheitlichen Gemeinwesens kümmern. Sie wollten mit ästhetischer Bildung, humanistischer Erziehung und aufklärerischer Selbstbildung dafür sorgen, dass ihre deutschen Mitbürger moralisch in die Lage versetzt würden, sich zu be-freien.
Tägliches Bekenntnis zu Demokratie
Auch für unsere „Freiheit und Gleichheit“ muss ein vorpolitisches Fundament existieren, das die Franzosen „Fraternité“ genannt haben. Im ersten Wort unserer Natio-nalhymne ist davon noch etwas zu spüren, denn „Einigkeit“ meint nicht etwa nur die politische Einheit aller Deutschen, die wir erst ersehnt, dann gewonnen, später verspielt haben – und nun 25 Jahre nach einer „friedlichen Revolution“ mit neuem Leben zu füllen versuchen. Gemeint war vom Dichter unserer Hymne, dem Demokraten Heinrich Hoffmann von Fallersleben, auch die Einigkeit der Herzen und der Gesinnung, also ein Wissen um das Gemeinwohl, um die gemeinsamen Werte ei-ner Bürgergesellschaft, die sich täglich neu zur Nation zu formen hat. Denn das Bekenntnis zu Demokratie, zu Bürgerrechten, zu „Einigkeit und Recht und Freiheit“ oder zu „Liberté, Egalité, Fraternité“ ist ein tägliches Plebiszit aller Bürger.
Angesichts dessen, was wir im letzten Jahr auch und gerade in Sachsen und Dresden erlebt haben, bleiben also folgende Fragen auf der Tagesordnung: Wie wird man mündig zur Freiheit? Wie bildet man Bürger für die Demokratie? Wie holt man diejenigen zurück, die sich aus den laufenden Geschäften unseres Gemeinwesens als Wähler und Mitbürger längst verabschiedet haben? Wie stellt man sich zu de-nen, die uns – gewählt, legitimiert und legitimer Weise immer auch kritisch beäugt – verwalten und regieren? Welche Rolle sollen und wollen diejenigen spielen, die über höhere Bildungsabschlüsse verfügen als die meisten anderen? Was ist unser gemeinsames Wohl in unserer Gesellschaft der Konkurrenz-Interessen? Was heißt es ein Deutscher, ein Sachse und zugleich ein „Weltbürger“ zu sein? Wie verbin-den wir die Liebe und den Stolz auf unser Land mit der Freude über und der Neugier auf andere Kulturen? Und woher nehmen wir die Kraft, immer wieder neu und unverzagt, für „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ und für „Einigkeit und Recht und Freiheit“ zu kämpfen?
Kopf hoch!
Vom Revolutionär George Jacques Danton sind letzte Worte überliefert. Als der zur Hinrichtung schritt, sagte er zum Henker: „Du musst meinen Kopf hochheben und dem Volke zeigen. Einen solchen sieht man so bald nicht wieder.“ – Also, Kopf hoch, Ihr demokratisch-republikanischen Mitbürger. Es ist ja nicht das Schafott, auf dem wir unser Selbstbewusstsein zeigen müssen."