Die Übereinstimmung von Regierten und Regierenden kennen wir aus der Antike. Die Wiege der modernen Demokratie, Athen im 5. Jahrhundert vor Christus, war eine solche Volksherrschaft. Alle Bürger - die wehrfähigen Männer über 25 Jahre - wurden mindestens 40 Mal pro Jahr zur Ekklesia, der Volksversammlung, gerufen. Dort berieten sie über das Gemeinwesen und fassten Beschlüsse. Eine solche Ausgestaltung des politischen Systems ist heutzutage kaum praktikabel – weder im Freistaat Sachsen mit etwas über vier Millionen Bürgern noch in der Bundesrepublik mit über 80 Millionen Einwohnern. Ferner werden bei solchen Entscheidungsprozessen besonders talentierte Redner, im negativen Sinne: Demagogen, bevorzugt.
Ende November veröffentlichte die Sächsische Staatsregierung zum ersten Mal den SachsenMonitor, welche die Einstellung von sächsischen Bürgerinnen und Bürgern zur Demokratie in unserer Gegenwart untersuchte. Eine der deutlichsten Ergebnisse der Untersuchung war das Verhältnis der Sachsen zur Entscheidungsfindung ihrer Regierung. 82 Prozent der Sachsen mit Hauptschul- oder ohne Abschluss, 77 Prozent der Sachsen mit Realschulabschluss und über 50 Prozent der Sachsen mit höheren Bildungsabschlüssen stimmten der Aussage "Leute wie ich haben so oder so keinen Einfluss darauf, was die Regierung tut." voll oder eher zu. In einem demokratischen System, in dem eine Mehrheit ("die Bevölkerung") mit Entscheidungen einer Minderheit ("die Politik") dauerhaft nicht übereinstimmt, steht vor deutlichen Umbrüchen. Was also tun, gegen das zumeist subjektive Gefühl der Bevormundung? Was kann getan werden, damit der Bevölkerung nicht nur mitwirken, sondern auch mitbestimmen kann?
Direktwahl der politischen Amtsträger
Wie verhält es sich mit der Direktwahl von politischen Führungskräften durch die Bevölkerung? Praktiziert wird dies zumeist in den Kommunen. Doch auf Länder- und Bundesebene wird der Regierungschef vom Parlament gewählt. In diesem parlamentarischen Regierungssystem wählt eine Mehrheit der Parlamentarier und muss die gewählte Person über die Wahlperiode hinweg im Amt halten. Würde das Amt des Ministerpräsidenten durch die Bevölkerung unabhängig von den Parlamentsmehrheiten gewählt, wer würde für die Stabilität über die Wahlperiode hinweg sorgen? Schwächte diese Veränderung unseres repräsentativen Systems das Parlament? Wichtig scheint, egal - wie in Zukunft politische Entscheidungsträger bestimmt werden - ob direkt oder repräsentativ: die Wahl des Prozederes muss der Funktionslogik des Rahmens folgen. Wer eine stabile Demokratie will, wird zukünftig weder an repräsentativen Formen, noch an direkter Beteiligung einseitig vorbeikommen.
Wäre da noch die Wahl des Bundespräsidenten - Das höchste Amt im Staat. Vornehmlich repräsentativ, doch in Einzelfällen mächtig. Ist es denn nicht angebracht, sie oder ihn direkt zu wählen? Ja-ein müsste man antworten. Denn mit der Direktwahl des Bundespräsidenten wäre der Inhaber des Amtes besonders gut legitimiert. Oder auch nicht. Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik ist wegen des Scheiterns der Weimarer Republik so ausgestaltet worden, wie es sich seit über 65 Jahren darstellt. Ein starker, weil direkt gewählter Präsident wäre stets ein großer Gegenspieler des Regierungschefs – wie in der Weimarer Republik von 1918-33. Es gäbe zwei Machtpole im Staat, dessen Stabilität beliebig und dem Zufall des Gefallens zweier Personen überlassen wäre. Die Rufe, das Amt des Bundespräsidenten wie auch immer „aufzuwerten“, lassen sich bereits jetzt erkennen. Möglicherweise kann man hierdurch zwar die Akzeptanz des Amtes stärken, doch zu welchem Preis? Auf jeden Fall würde die Einführung der Direktwahl des Bundespräsidenten die Funktionslogik des aktuellen politischen Systems verändern. Es müsste neu ausgerichtet werden. Entscheidet man sich dafür, müsste diese neue Ausrichtung bereits im Geist der Neuerung durch eine direkte Entscheidung der Bevölkerung legitimiert werden.
Plebiszitäre Elemente in einer repräsentativen Demokratie
Wenn die Rede von „Direkter Demokratie“ ist, werden in der Regel aber meist mehr direktdemokratische Elemente in der repräsentativen Demokratie eingefordert. Das Grundgesetz sieht in der Tat nur in einem einzigen Fall einen Volksentscheid vor – bei der Neuregelung des Bundesgebietes (Art. 29 GG). Die Sächsische Verfassung bietet weit mehr Möglichkeiten. In Artikel 70 heißt es: „Die Gesetze werden vom Landtag oder unmittelbar vom Volk durch Volksentscheid beschlossen.“ Seit Inkrafttreten der Verfassung fand freilich nur ein einziger Volksentscheid in Sachsen statt. Dies war im Jahr 2001 zur Frage der Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Kreditwesens im Freistaat. Bleibt die Frage: Was sind die wesentlichen Vorteile von plebiszitären Elementen? Und wie sehen die wichtigsten Nachteile aus?
„Vorteile“ einer Volksgesetzgebung
Ein wesentlicher Vorzug liegt in der Legitimitätssteigerung des Gesetzgebungsprozesses. Befragt man Bürger zu einem bestimmten Sachverhalt, werden sie sich (spätestens dann) mit dem Gegenstand auseinandersetzen. Die Politiker müssten zudem verstärkt um ihre Positionen werben. Überdies wirken die Bürger so direkt an der Gestaltung von Gesetzen mit. All das sollte die Legitimität, d.h. die Anerkennung der getroffenen Entscheidungen als rechtens, steigern helfen.
Der zweite wesentliche Vorteil bestünde in der verstärkten Kontrolle der Abgeordneten. Wenn jene um die Kontrollmöglichkeit des Souveräns wüssten, Entscheidungen in Bundes- oder Landtag unter Vorbehalt (eines möglichen Volksentscheids) stünden, würden sie dies via Antizipationsschleife vorausahnen und bereits in den parlamentarischen Gesetzgebungsprozess – gleichsam „automatisch“ – einließen lassen. Die Bürger müssen noch nicht einmal abstimmen, die Parlamentarier wüssten schon, was der Souverän wünscht.
„Nachteile“ von plebiszitären Elementen
Aber ist dies denn auch wirklich lohnenswert? Periodisch stattfindende Wahlen – aller vier Jahre im Falle des Bundestags, deren fünf im Falle des Sächsischen Landtags – sollten die Abgeordneten bereits hinreichend „an die Kette legen“. Die Volksvertreter möchten in der Regel wiedergewählt werden. Demnach werden sie sich ohnehin nicht allzu weit von dem entfernen, was der Souverän, der Wähler, erwartet und wünscht. Würde nun noch ein genereller Vorbehalt in Form von Volksentscheiden bestehen, wären dann notwendige, aber unpopuläre, Entscheidungen überhaupt noch möglich? Die Meinung der Bevölkerungsmehrheit kann in diesem Sinne auch fehlbar sein. Abgeordnete besitzen unter anderem deshalb ein freies Mandat. Jenes macht sie ein Stück weit unabhängig vom (aktuellen) Standpunkt der Regierten. Auf der anderen Seite sollen Parteien in alle Bevölkerungsschichten hinein vernetzt sein, um (relevante) Meinungsbilder aufnehmen zu können.
Ein weiteres Argument gegen plebiszitäre Elemente schließt mehr oder weniger direkt daran an. Komplexe politische Sachverhalte sind in der Regel auf keine einfache JA/NEIN-Frage herunter zu brechen. Überdies wären Volksbefragungen immer auch der Gefahr ausgesetzt, in Wahrheit nicht über das eigentliche Thema abstimmen zu lassen, sondern vielmehr über die aktuelle Zufriedenheit mit der Regierung. „Bessere“, weil in der Gesellschaft breit diskutierte und anerkannte Gesetze in der Sache würden wahrscheinlich nicht dabei entstehen.
Mehr direkte Demokratie?
Wie immer im Politischen geht es um Detailfragen, hier der Ausgestaltung plebiszitärer Elemente in Ergänzung zum repräsentativen Charakter des politischen Systems. Grundlage auf Bundesebene ist Artikel 20 des Grundgesetzes, das alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen sieht. Inwieweit ein Mehr an direkter Demokratie ein Mehr an guten Lösungen mit sich bringt, ist allerdings nicht eindeutig zu beantworten. Eindeutig ist, dass wenn eine Mehrheit im Land mehr Mitbestimmung einfordert, es töricht wäre, diese zu ignorieren. Je offener die Vor- und Nachteile erörtert und die Veränderungen und Verantwortungen thematisiert würden, desto bessere Entscheidungen könnten gefällt werden.