„Der Weg nach Europa bedeutet für uns Demokratie, Recht und Zukunft“
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine sorgt für Unruhe auf der ganzen Welt. Und verändert auch in der Europäischen Union die Dynamiken. Drei Länder haben kurz nach Kriegsbeginn ihren EU-Beitritt beantragt – die angegriffene Ukraine, außerdem Georgien und Moldau, die ebenfalls fürchten, Ziel von russischen Angriffen zu werden. Die Erweiterung der EU ist ein komplexer Prozess, viele Kriterien müssen geprüft und erfüllt werden. Durch den Krieg hat sich die politische Realität schlagartig verändert. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach sich für einen raschen EU-Beitritt der Ukraine aus. Doch lässt sich das im Eiltempo bewältigen? Wie muss zwischen dem politischen Geforderten und dem juristisch Möglichen abgewogen werden? Darüber wurde am 3. Mai, bei einer Sonderveranstaltung der Reihe „Welche Zukunft hat Europa? – Gespräche zu 30 Jahren Europäische Union“, im Dresdner Stadtmuseum diskutiert. Die Veranstaltung ist eine Kooperation der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, der Konrad-Adenauer-Stiftung Sachsen, dem Zentrum für Internationale Studien und dem Institut für Internationales Recht der TU Dresden.
Friedensprojekt Europäischen Union
„Die große Idee der Europäischen Union ist, dass sie eine Friedensordnung schafft“, sagt Dominik Steiger, Inhaber des Lehrstuhls für Völkerrecht der TU Dresden, der den Abend moderiert. „Wir wollen uns anschauen, inwiefern die Ukraine, Moldau und Georgien Teil dieses Friedensprojekts werden können.“ Steiger geht kurz die vielfältigen Bedingungen durch, die für einen EU-Beitritt erfüllt sein müssen: politische und wirtschaftliche Kriterien sowie das sogenannte Acquis-Kriterium, wonach das gemeinschaftliche Recht der EU-Staaten übernommen werden muss. Sobald Beitrittsverhandlungen eröffnet sind, kann der Beitrittsprozess dauern, unterschiedlich lang, wie die bisherigen Erfahrungen zeigen. Die Türkei sei bereits seit 17 Jahren EU-Beitrittskandidat, Finnland dagegen habe bis zum Abschluss des Prozesses nur drei Jahre gebraucht, sei aber schon vorher stark wirtschaftlich in europäischen Märkten integriert gewesen. „Juristische Grenzen müssen eingehalten werden, aber juristisch ist vieles möglich“, sagt Steiger. „Was politisch sinnvoll ist, auch das möchten wir diskutieren.“
Zur Debatte sind zwei Gäste geladen, die zunächst ihre Perspektiven schildern: Tim B. Peters, Leiter des Auslandsbüros Ukraine der Konrad-Adenauer-Stiftung, und Maria Degtiarenko, Direktorin des Bayerischen Hauses in Odessa; sie ist kurz nach dem Kriegsausbruch aus ihrer Heimat nach Deutschland geflohen. Die Annäherung an die EU sei schon seit vielen Jahren das Ziel der Ukraine, sagt sie. Degtiarenko erwähnt das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine. Und die Ablehnung einer Unterzeichnung des Abkommens unter der Regierung Janukowytsch im Jahr 2013 – ein Schritt, der in der Ukraine zu Protesten führte. „Der Weg nach Europa bedeutet für uns Demokratie, Recht und Zukunft“, sagt Maria Degtiarenko. Auch die Maidan-Proteste im Jahr 2014 seien Ausdruck des Bestrebens gewesen, nach europäischen Werten zu leben. „Diese Richtungsentscheidung provozierte Russland, das erst die Krim annektierte, dann begann, den Osten der Ukraine zu destabilisieren.“ Und schließlich im Februar einen vernichtenden Krieg in der Ukraine startete.
Trotz Problemen auf dem richtrigen Weg
Maria Degtiarenko setzt sich differenziert mit Problemen auseinander, die in der Ukraine auf dem Weg in die EU noch gelöst werden müssen – etwa der Kampf gegen Korruption und gegen den Einfluss von Oligarchen. Sie erwähnt Bereiche, in denen es bereits Fortschritte gab, und, wo Reformen zuletzt ins Stocken kamen. Bei der Polizei zum Beispiel und im Verwaltungsapparat seien Reformen bereits gelungen. „Aber es gibt noch viel zu tun, etwa in der Justiz“, sagt Degtiarenko. Vor dem Kriegsausbruch hätten unter der Präsidentschaft von Wolodymyr Selenskyi „Reformfortschritte erheblich nachgelassen“. Dennoch sieht Maria Degtiarenko die Ukraine auf einem richtigen Weg. „Uns Ukrainern ist bewusst, dass der EU-Beitritt ein langwieriger Prozess ist.“ Ob die Ukraine zu Europa gehört? Diese Frage sei für sie noch klarer beantwortet seit dem Beginn des Kriegs. „Putin hat den Angriff auf die Ukraine damit begründet, dass die Ukraine sich nach Westen orientiert“, sagt sie. „Die Ukrainer sehen ihre Zukunft im Westen. Das haben sie nicht nur mit den Protesten auf dem Maidan, sondern auch mit der tapferen Verteidigung im Krieg deutlich gemacht.“
Tim B. Peters, Leiter des Ukraine-Büros der KAS, analysiert die Lage ähnlich. Erklärungen für die russischen Aggressionen und Angriffe sieht er weniger in sicherheitspolitischen Fragen, etwa dem Argument der Nato-Osterweiterung. „Die eigentliche Bedrohung, die von der Ukraine für Russland immer ausging, war keine militärische Bedrohung, sondern eine politische“, sagt Peters. Russland sei immer noch von imperialem Herrschaftsdenken geprägt und habe sich durch das spürbare Drängen der Ukraine zum demokratischen, freiheitlichen Westen bedroht gefühlt. „Mit jedem Jahr hat sich die Ukraine weiterentwickelt, ist das Land europäischer geworden.“ Diese Entwicklungen im einstigen Bruderland hätten „auch in Russland Fragen auslösen“, das System dort ins Wanken bringen können. Russlands Reaktionen darauf seien auch gewesen: Unterdrückung von Demokratie im eigenen Land, eine Entwicklung zur Autokratie, inzwischen mit immer mehr diktatorischen Zügen. Auch Peters verweist auf die Reformfortschritte der Ukraine in den vergangenen Jahren und noch zu bewältigende Probleme. „Eine Justizreform fehlt noch, das Rechtssystem ist noch nicht reformiert“, sagt er. „Aber man muss sagen, dass im Großen und Ganzen die Richtung stimmt.“
Vorbilder Georgien und Moldau
Im Publikum gibt es eine rege Diskussion. Ein Mann wundert sich, warum viele im Westen vor Putins Regime nicht stärker gewarnt gewesen seien. Er erwähnt den Umgang mit Nawalny, Desinformationskampagnen durch Russland im Ausland und viele weitere Vorfälle. „Warum ist all das nicht gesehen worden?“ Maria Degtiarenko sagt: „Sie haben wichtige Punkte angesprochen, über die ich in den letzten zwei Monaten immer wieder nachdenken muss.“ Sie sagt auch, dass sie den russischen Angriffskrieg vor dem 24. Februar selbst nicht für möglich gehalten habe. Tim B. Peters stimmt den Einschätzungen des Manns zu. „Es gab viele Warnungen, besonders von anderen osteuropäischen Ländern.“ Was die Entwicklung Russlands in den vergangenen Jahren angeht, sieht er nicht nur die Linie der Regierung, auch Prägungen in der Bevölkerung als wesentlich. „Offensichtlich gibt es nach wie große imperiale Gefühle in großen Teilen der Gesellschaft.“ Bitter sei, dass Russland sich abgekoppelt habe von Entwicklungen in den ehemaligen Bruderländern. „Die Tragik ist, dass Russland es nicht geschafft hat, einen Wandel durchzuführen in eine Art Commonwealth of Nations.“
Ein Zuschauer will wissen, wie die Experten die Lage für Georgien und Moldau einschätzen. Beide Länder seien ebenso auf dem Reformweg in Richtung EU, sagt Maria Degtiarenko. Die Ukraine habe von beiden Ländern viel gelernt, „sie waren auch ein Vorbild“. Eine Frau fragt nach möglichen Auswegen aus dem Krieg: „Es gibt ja auch den Gedanken, dass die Ukraine ein neutrales Land werden soll. Ist das eine Option oder eine Illusion?“ Tim B. Peters ist, was diesen Aspekt angeht, skeptisch. „Die Frage ist, was mit Neutralität gemeint ist. Wenn damit gemeint ist, demilitarisiert, dann ist die Frage illusorisch. Denn kein Ukrainer wird die Gefahr in Kauf nehmen, wehrlos einem erneuten russischem Angriff gegenüberzustehen.“
Beitrittsperspektive beschleunigt Reformen
Zum Schluss bleibt die Frage: Wie wird es mit der Ukraine und einem EU-Beitritt weitergehen? Schnell wird dieser Prozess nicht abgeschlossen sein, darin sind sich beide einig. „Wir sind ein starkes Volk und haben viel Unterstützung“, sagt Maria Degtiarenko. Sie geht davon aus, dass die Ukraine in fünf Jahren noch kein vollständiges EU-Mitglied sein wird, „aber in einem starken Bündnis“ mit EU-Ländern. Die Beitrittsperspektive für die Ukraine sei „ein Katalysator, das kann den Reformprozess beschleunigen“, sagt Tim B. Peters. Auch er glaubt nicht, dass die Ukraine bald EU-Mitglied sein wird, aber es sei wichtig, „dass wir den Ukrainern dieses Ziel geben“. Die Menschen in der Ukraine müssten gestärkt werden, „denn sie verteidigen nicht nur ihre, sondern auch unsere Freiheit“.