„Die Lügen über den Krieg widersprechen jeder Realität“
Frau Smola, Sie sind in Russland geboren, leben und arbeiten nun schon viele Jahre in Deutschland. Wann waren Sie das letzte Mal in Ihrer Heimatstadt Moskau?
Das war Anfang 2020, kurz vor dem großen Ausbruch der Corona-Pandemie. In Moskau leben meine Eltern, meine Schwester und ihre Familie. Ich hatte über das Internet auch in den letzten Wochen noch viel Kontakt mit ihnen. Aber auch Kanäle wie Skype, WhatsApp oder Facebook sind jetzt nicht mehr ohne Weiteres erreichbar beziehungsweise werden bald abgeschafft. Voriges Wochenende wurde unser Skype-Gespräch bei funktionierender Internetverbindung plötzlich abgebrochen und gleichzeitig wurde auch WhatsApp blockiert. Das ist früher nie passiert.
Wie hat Ihre Familie in Moskau die letzten Wochen erlebt?
In den letzten Tagen wurden einige Menschen aus meiner Verwandtschaft verhaftet, weil sie in Moskau friedlich gegen den Krieg protestiert haben. Meine Nichte ist 18 Jahre alt, sie studiert dort. Sie hat ihrer Mutter gesagt, sie wisse, dass die Familie große Angst um sie habe, aber dass sie jetzt Zivilcourage zeigen und demonstrieren müsse. Tatsächlich wurden meine Nichte und mein Neffe dann bei einer Demonstration vor einigen Tagen verhaftet. Inzwischen sind sie wieder freigelassen worden, aber sie werden massiv von der Polizei bedroht. Sie wurden zuhause von einem Polizisten aufgesucht, der ihnen mitteilte, wenn sie noch einmal auf die Straße demonstrieren gingen, drohe ihnen nicht nur eine Geldstrafe, sondern sie würden ins Gefängnis kommen.
Aus dem Orchester, in dem der Mann meiner Schwester arbeitet, wurde vor einigen Tagen sein Kollege nur deshalb entlassen, weil er sich in den sozialen Medien gegen Tötungen an sich ausgesprochen hat – ohne das verbotene Wort „Krieg“ überhaupt zu nennen. Und einem Freund meiner Eltern, einem Theaterregisseur, wurde das Gehalt um ein Drittel gekürzt, weil er unter einem kritischen Kommentar bei Facebook einen Like gesetzt hat. Das alles erinnert mich stark an die Sowjetzeit und die plötzlichen Festnahmen, teils bis hin zum Foltern, erinnern sogar an die Säuberungen des Stalinismus.
Wie schwierig ist es zurzeit, sich von Deutschland aus einen Überblick über die Stimmung in der russischen Gesellschaft zu verschaffen? Kann man überhaupt abschätzen, wer für und wer gegen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist?
Russische Gesellschaft ist schwer von der Politik Putins zu trennen, ist jedoch mit dieser auch nicht zu identifizieren. Wenn Propaganda über zwanzig Jahre erfolgreich betrieben wird, kann man von der Verschmelzung der Gesellschaft mit dem Staat sprechen. Doch ist in diesem Teufelskreis, den man aus Diktaturen kennt, nicht klar, was von der Mehrheit unterstützt wird und was in Umfragen und Äußerungen falsifiziert und zurechtgebogen wird.
Ein großer Teil der russischen Bevölkerung informiert sich über das Staatsfernsehen, das seit vielen Jahren von der Propaganda beherrscht wird. Nur ein kleinerer Anteil der russischen Gesellschaft nutzt andere Quellen mit seriösen und regierungskritischen Informationen. Aber auch das ist jetzt viel komplizierter, weil die meisten kritischen Medien gesperrt wurden oder aus Angst vor Repressionen ihre Arbeit eingestellt haben. Es ist deshalb schwierig einzuschätzen, wie die Stimmung in der Bevölkerung ist.
Welche Medien und Quellen nutzt Ihre Familie?
Meine Eltern waren bereits in der Sowjetzeit Unterstützer der Dissidentenbewegung und haben schon immer kritische Medien verfolgt. Es sind einige Seiten von Bloggern im Netz, zum Beispiel auf YouTube, übriggeblieben, die sie jetzt noch lesen. Aber man muss natürlich wissen, wo man solche Informationen findet. Viele meiner Freunde und Kollegen in Russland haben inzwischen einen Telegram-Account, darüber ist zum Beispiel noch Austausch möglich.
Es gab Aufruhr, als vor einigen Tagen Maria Owsjannikowa, Mitarbeiterin beim russischen Staatsfernsehen, plötzlich in einer Nachrichtensendung ein Anti-Kriegs-Plakat hochhielt. Haben Sie in Ihrem russischen Umfeld Reaktionen auf diese Aktion wahrgenommen?
In meinem Umfeld, und das ist zugegebenermaßen eine Informationsblase – eine Art Gemeinde der Gleichgesinnten –, wurde Maria Owsjannikowa bewundert für diese Aktion. Wie ihr Handeln in der Breite in Russland aufgenommen wurde, kann ich nicht sagen. Das ist aktuell kaum herauszufinden.
Wie werden in der russischen Gesellschaft die Beziehungen zur Ukraine gesehen und gelebt?
Russland und die Ukraine sind zwei Staaten, aber es gibt viele Gemeinsamkeiten: enge kulturelle und historische Verbindungen, aber auch familiäre Beziehungen. Deshalb schaffen der brutale Krieg und die Propaganda der russischen Führung auch so eine unfassbare Diskrepanz. Eine künstliche Feindschaft und Entzweiung wird bereits seit 2014 von oben erzeugt. Auch in der russischen Bevölkerung gibt es nun verstärkt Feindschaft gegenüber Ukrainern.
Meine Schwester arbeitet in einer Grundschule in Moskau. Sie hat mir erzählt, dass seit dem Ausbruch des Kriegs ein ukrainisches Mädchen dort von russischen Mitschülern gemobbt wird. Meine Schwester und ihre Kollegen versuchen, das zu unterbinden. Sie können auch nicht begreifen, dass solche Übergriffe plötzlich passieren.
Es werden Lügen verbreitet. Die russische Führung nennt den Krieg „Sonderoperation“ zur „Entnazifizierung“ der Ukraine. Das Geschehen wird völlig verzerrt dargestellt. Wie kann derartige Propaganda in Teilen der russischen Bevölkerung verfangen?
Darüber staunt man. Die Lügen über den Krieg widersprechen jeder Realität. Das erinnert mich wiederum stark an den Kalten Krieg, wo es auch zwei komplett verschiedene Welten gab in den Darstellungen – sozusagen ein Krieg der Wirklichkeiten. Doch wir leben heute in einer globalisierten Welt, in der Informationen bis vor kurzem noch frei zugänglich waren. Wie kann dieses Lügen-Regime damit durchkommen?
Vielleicht erklärt sich das dadurch, dass Putins Ideologie sich auf eine lange Tradition des rechten, nationalistischen und autokratischen Denkens in Russland stützt. Nur so kann man die heutige Popularität von historischen Schreckgestalten wie Ivan dem Schrecklichen oder Josef Stalin verstehen. Putin bedient sich verschiedener historischer Quellen, die zurechtgebogen und willkürlich interpretiert werden. Geschichte wird zur Ressource für die eigene „Erzählung“ und zur Rechtfertigung für das eigene Tun.
Wie nehmen Sie die Darstellungen von Russland hier in Deutschland wahr?
Ich habe die Hälfte meines Lebens in Russland verbracht, die andere in Deutschland. Deshalb ist auch meine Einstellung zum Russlandbild ambivalent. Ich verkörpere die Werte, die mich in Deutschland umgeben und die mich in meiner westlich-liberal orientierten Familie von Anfang an geprägt haben. Andererseits denke ich, dass das Bild von Russland im Westen immer schon etwas einseitig war.
Wenn es beispielsweise um Widerstand gegen das russische Regime geht, dominiert oft das Bild von zusammengeschlagenen Demonstranten, was natürlich auch der Wahrheit entspricht. Aber es gibt auch andere, leise Formen des Widerstands, die seltener in medialen Darstellungen vorkommen. Die Diversität in der russischen Gesellschaft geht unter in westlichen Darstellungen.
Welche Beispiele für Widerstand gibt es, abseits von Demonstrationen?
Kunst und Kultur waren in Russland und vorher in der Sowjetunion schon immer Möglichkeiten, um sich auch politisch zu äußern. Es gibt so etwas wie eine zweite Öffentlichkeit, vielfach vernetzt im Internet: aktivistische Plattformen, Ausstellungen, Performances mit politischer Lyrik und engagierten Theateraufführungen. Jetzt muss man schauen, was von all diesen Aktivitäten von der Zensur noch übriggelassen wird.
Es gibt Berichte über Menschen mit russischem Hintergrund, die seit dem Kriegsausbruch in Deutschland von Diskriminierung betroffen sind. Ist Ihnen das auch schon passiert?
Ich habe so etwas bisher noch nicht erlebt. Aber Kollegen haben mir gesagt, dass sie Angst haben, in der Stadt russisch zu sprechen. Eine Freundin hat sich neulich mit jemandem auf der Straße russisch unterhalten. Da wurde von Fremden mit dem Finger auf sie gezeigt, von wegen: Schaut mal, das sind Russen. Das sind natürlich unangenehme Erlebnisse.
Sie unterstützen seit dem Kriegsausbruch Geflüchtete. Was erleben Sie bei diesen Begegnungen?
An unserem Institut kümmern wir uns viel um Flüchtlinge aus der Ukraine, organisatorisch und finanziell. Wir unterstützen auch Kollegen aus der Ukraine, helfen ihnen bei Bewerbungen um Stipendien und Stellen für geflüchtete Wissenschaftler. Ich bekomme außerdem persönlich viele Bitten von Kollegen aus Russland, die ebenfalls geflüchtet sind.
Wir erleben eine Abwanderung von Intellektuellen aus Russland. Auch das ist eine unglaublich traurige Entwicklung. Das Ausmaß dieser Emigration können wir noch nicht abschätzen, aber ich vermute, das wird eine große Welle. Allein ich hatte in den letzten Tagen mehrere Anfragen von meinen Kollegen teilweise sehr bekannten russischen Intellektuellen und brillanten Wissenschaftlern. Sie habe Russland verlassen, halten sich auf Zwischenstationen in der Türkei oder in den baltischen Ländern auf und hoffen auf berufliche und finanzielle Unterstützung in westlichen Ländern.
Ich versuche, ihnen zu helfen, diskutiere mit Instituten, Fördereinrichtungen und Forschungsstellen in Deutschland. Es ist jedoch nicht einfach. Es gibt Vorbehalte, weil diese Wissenschaftler aus Russland kommen. Die Haltung ihnen gegenüber ist in Deutschland derzeit ambivalent und oft noch wenig differenziert.