„Die rechtliche Behandlung von Flüchtlingen ist eine unheimlich schwierige Angelegenheit“
Die Europäische Union wird in diesem Jahr 30 Jahre alt. Die Bürgerinnen und Bürger der 27 Mitgliedsstaaten haben inzwischen drei Jahrzehnte Erfahrungen mit mehreren Zugehörigkeiten: Sie sind Deutsche, Franzosen, Griechen oder Iren - und seit dem Vertrag von Maastricht EU-Angehörige. Doch was bedeutet die Unionsbürgerschaft eigentlich? Was sind die rechtlichen und politischen Auswirkungen? Welche Entwicklungen und Probleme gibt es? Anlässlich des Jubiläums war mit Vasilios Skouris ein ausgewiesener Experte am 5. April im Dresdner Stadtmuseum zur Diskussion geladen zum Thema: „30 Jahre Unionsbürgerschaft – Sind wir seit Maastricht alle Europäer?“. Skouris ist Rechtswissenschaftler, gebürtig aus Griechenland, ab 1999 war er Richter am Europäischen Gerichtshof, von 2003 bis 2015 dessen Präsident. Die Veranstaltung ist Teil der Reihe „Welche Zukunft hat Europa? Gespräche zu 30 Jahren Europäische Union“, eine Kooperation der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, der Konrad-Adenauer-Stiftung Sachsen und der Professur für Völkerrecht und Europarecht der TU Dresden.
Wenn man aktuell auf Europa blickt, geht es oft um den Krieg in der Ukraine, auch bei dieser Debatte. „Krisen haben zwei Aspekte, negative und manchmal auch positive“, sagt Moderator Joachim Klose zur Begrüßung. „Der Krieg in der Ukraine erschüttert uns zutiefst, führt aber gleichzeitig dazu, dass die Europäer sich wieder näher sind als je zuvor.“ Klose erwähnt die gemeinsame europäische Identität, die derzeit erstarke, aber auch Unstimmigkeiten, die es zwischen den EU-Mitgliedsstaaten nach wie vor gäbe, auch zum Spannungsfeld von nationaler Zugehörigkeit und Unionsbürgerschaft.
"Die Antwort fällt nicht einfach aus“
„Der europäische Bürger hat ein reifes Alter erreicht“, sagt Vasilios Skouris, der zunächst eine halbe Stunde referiert. In seinem Vortrag, mit vielen juristischen Details gespickt, geht es um Definitionsfragen zur Unionsbürgerschaft und entsprechende Präzedenzfälle. Wie kann man die Personen einkreisen, die die EU-Bürgerschaft bekommen können? „Die Antwort fällt nicht einfach aus“, sagt Skouris. „Die Verträge sind darauf ausgewichen, dass EU-Bürger ist, wer die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedslands besitzt.“ Theoretisch könne man sich auch andere Varianten vorstellen. Etwa, dass jeder, der sich auf EU-Gebiet aufhält, die Unionsbürgerschaft beanspruchen könnte, auch Angehörige von Drittstaaten. Über Reformen der Unionsbürgerschaft wird in Thinktanks beraten, auch Skouris beteiligt sich an solchen Überlegungen, der Ausgang ist noch offen.
Der ehemalige EuGH-Präsident beschreibt Fälle, die zu Diskussionen geführt haben, etwa das sogenannte Zambrano-Urteil. Bei diesem Fall ging es um eine kolumbianische Familie, die in Belgien lebte, die Kinder waren dort geboren und hatten die belgische Staatsbürgerschaft erhalten. Das Urteil des EuGH stärkte in diesem Fall die Unionsbürgerschaft. Man müsse den Eltern Aufenthalt und Arbeit erlauben, so der Gerichtshof, weil ihre Kinder Unionsbürger sind. „Dieses Urteil hat eine virulente Debatte in den Mitgliedsstaaten ausgelöst, weil die Befürchtung geäußert wurde, dass es zu einer massiven und missbräuchlichen Geltendmachung der Rechte der Unionsbürger führen könnte. Mit dem Hintergedanken, dass den Mitgliedern der Familie eines Unionsbürgers, die Drittstaatsangehörige sind, ebenfalls ein Aufenthaltsrecht zusteht“, erklärt Skouris. Er halte solche Bedenken allerdings für unbegründet, denn die sogenannte „Zambrano-Formel“ sei nur anwendbar, „wenn dem Unionsbürger der Kernbestand der Unionsbürgerrechte tatsächlich verwehrt wird“.
Knapp 70 Menschen sitzen im Publikum. In der anschließenden Diskussion geht es häufig um Fragen, die Migration betreffen. Ein Mann erwähnt, dass es auch „restriktive Urteile“ des Gerichtshofs gegeben habe. Er will wissen: „Wie stark spielen nicht nur rechtliche Überlegungen eine Rolle, sondern auch politische?“ Vasilios Skouris antwortet, dass er „einen wichtigen Punkt, einen wunden Punkt“ anspreche. „Sie haben Recht, wenn Sie sagen, dass die Rechtsprechung auch restriktiver geworden ist“, sagt er, „sie ist es geworden, weil der Gesetzgeber es so gewollt hat“.
Richtlinie über temporären Schutz in Krisensituationen
In der Debatte geht es auch um die aktuelle Situation von Geflüchteten aus der Ukraine. Dabei passiere etwas Interessantes, sagt Skouris, „hier hat man reagiert in einer Art und Weise, die exemplarisch sein dürfte“. Grundlage sei eine nun angewendete Richtlinie über temporären Schutz in Krisensituationen aus dem Jahr 2000. Skouris gibt zu: „Ich kannte sie gar nicht.“ Dadurch bekämen Ukrainer, die gerade in EU-Länder fliehen, großzügige Rechte. „Sie können im Gebiet der EU reisen, haben Recht auf Zugang zu Sozialleistungen und Schulen.“ Skouris begrüßt das, „ich glaube, das ist Europas würdig“.
„Wie kann es sein, dass diese Richtlinie erst jetzt angewendet wurde?“, will eine Zuhörerin wissen. Die Ukraine sei nicht die erste humanitäre Krise. „Das ist eine berechtigte Frage“, sagt Skouris. Die nun aktivierte Richtlinie sei als Reaktion auf den Krieg in Ex-Jugoslawien in den 90er-Jahren entstanden. Warum sie nicht schon 2015 angewendet wurde, als es ebenfalls eine Flüchtlingswelle nach Europa gab? „Das kann ich nicht beantworten“, sagt Skouris.
Moderator Joachim Klose will wissen, wie man mit Menschen umgehen sollte, die ein Land einwandern wollen, aber keine Pässe vorweisen können. Bei solchen Fragen kommt auch Skouris an Grenzen. Man könne kein Recht anwenden, „wenn man nicht feststellen kann, wessen Landes Bürger jemand ist“. Er sagt: „Die rechtliche Behandlung von Flüchtlingen ist eine unheimlich schwierige Angelegenheit.“ Die Dublin-Verordnung hält er nur für bedingt geeignet. „Die hat so lange funktioniert, solange es keine Massen von Flüchtlingen gab.“ Er sage das auch als gebürtiger Grieche, seine Heimat habe viele Flüchtlinge aufgenommen, er sei in Elendslagern auf Lesbos gewesen. Allerdings würden Gesetze in solchen Situationen nur bedingt Lösungen liefern. „Da kann kein rechtliches System funktionieren, wenn jeden Tag Tausende Menschen ankommen“, sagt er. „Wie soll man feststellen, woher alle kommen, und, wie sie heißen?“. Insofern müsse man konstatieren, „dass das Recht auch seine Grenzen hat, weil das Recht ja strukturierte Fälle voraussetzt.“
"Kämpfen Sie mehr für Europa, es lohnt sich"
Ein Zuhörer übt am Schluss noch ein wenig Kritik. „Ich fand Ihren Vortrag sehr technisch“, sagt er. In Bezug auf Europa und die EU-Institutionen will er wissen: „Wie kann man versuchen, Dinge einfacher zu erklären?“ Vasilios Skouris gibt zu: „Es ist sicher eine sehr komplizierte Organisation, daran besteht kein Zweifel. Und es ist nicht einfach, Entscheidungsgänge zu begreifen und zu akzeptieren.“ Doch sein Schlusswort fällt positiv aus. Beim Krieg in der Ukraine und der Lage von Hundertausenden Geflüchteten, beweise die Union sich gerade. „Europa hat vielleicht nicht perfekt gehandelt, aber doch sehr gut gehandelt hat“, sagt Vasilios Skouris. „Insofern würde ich sagen, seien Sie optimistischer und kämpfen Sie mehr für Europa, es lohnt sich.“
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Aufzeichnung des Vortrages: