Herr Kaiser, mit welchen Emotionen blicken Sie auf den Krieg in der Ukraine?
Ich bin entsetzt. Es macht noch einen Unterschied, ob Städte bombardiert werden, oder, ob außerdem Zivilisten „von Hand“ getötet werden, wie es in vielen Fällen berichtet wird. Da bekommt der Krieg einen Zug von persönlicher Grausamkeit. Das steigert das Entsetzen. Und ich bin nach wie vor irritiert über das, was passiert. Ich habe schon vor dem Kriegsausbruch gedacht, dass Putin schwierig und gefährlich ist. Aber ich hätte ihn für rationaler gehalten. Für jemanden, der taktischer denkt. Nun habe ich das Gefühl, er setzt alles auf eine Karte und bricht viele Brücken hinter sich ab. Es passieren immer wieder neue Dinge, mit denen ich nicht gerechnet habe. Zum Beispiel die Massaker, die man in den Gebieten sieht, die von russischen Soldaten verlassen wurden. Das ist jenseits dessen, was ich für denkbar gehalten habe.
War man in Europa, in Deutschland zu naiv im Umgang mit Putin?
Ich denke, die Mehrheit war beruhigt, dass ab 2014 vieles zum Stehen gekommen schien. Wir waren beruhigt, dass es den Minsker Prozess gab. Der auch steckengeblieben war, aber man hatte das Gefühl, es wird noch verhandelt, da gibt es noch Regeln. Dass im Krieg in der Ostukraine auch schon Tausende Menschen ums Leben gekommen sind, blieb ja meist unter unserer Wahrnehmungsschwelle, insofern man kein besonderes Interesse an der Ukraine hatte. Ich habe damals auch geglaubt, dass es eine vernünftige Position war, auf Verhandlungen zu setzen und den Konflikt einzufrieren, schrittweise über Verhandlungen an Lösungen zu arbeiten, nicht alle wirtschaftlichen Brücken nach Russland abzubrechen. Im Rückblick glaube ich, dass Projekte wie Nordstream 2 ab 2015 politisch nicht mehr verantwortbar waren. Putin hatte in jener Zeit schon zu oft gelogen. Die wirtschaftliche Abhängigkeit zu Russland trotzdem weiter auszubauen, das sehe ich im Nachhinein als Fehler.
Gibt es eine spezielle Perspektive, die Sie als Militärpfarrer auf diesen Krieg haben?
An der Dresdner Offiziersschule, wo ich eingesetzt bin, sind keine Soldatinnen und Soldaten, die unmittelbar vor einem Einsatz stehen. Vorher war ich sieben Jahre am Standort in Frankenberg, wo nun auch Soldaten für die schnelle Eingreiftruppe der Nato vorgesehen sind. Da ist die Atmosphäre anders. Diese schnelle Eingreiftruppe hat bestimmte Vorwarnzeiten, wann sie zur Verfügung stehen muss. Und wenn sich solche Zeiten halbieren, dann heißt das auch für die Betroffenen, für die Soldaten und ihre Angehörigen, dass sie kurzfristig in einen Einsatz abgezogen werden könnten. Die aktuelle Lage setzt die Leute schon unter Druck. Bisher steht nicht zur Debatte, dass unsere Soldaten in den Krieg abgeordnet werden. Nach wie vor ist es ein wichtiges Ziel der Nato, sich nicht in einen Krieg verwickeln zu lassen. Bisher ist das Ziel, die Ostflanke der Nato zu sichern. Also dort Präsenz zu zeigen, um deutlich zu machen, über diese Grenze hinaus hätte es Putin mit der ganzen Nato zu tun.
Die Wahrnehmung der Bundeswehr verändert sich. Wie haben Sie das Bild in der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren wahrgenommen?
In der öffentlichen Wahrnehmung gab es, zumindest in meinem Umfeld, ein wohlwollendes Desinteresse. Da gab es oft die Einstellung: „Die Bundeswehr kann man schon mal brauchen und irgendwie gibt es ja auch Auslandseinsätze. Und im Inland sind die Soldaten bei Lagen wie der Bewältigung einer Flut oder der Corona-Pandemie brauchbar.“ Aber der eigentliche Kernauftrag kam fast nicht in den Blick. Ich finde das auch nicht so kritikwürdig. Eine Öffentlichkeit, die ständig über militärische Fragen diskutieren will, möchte ich mir auch nicht vorstellen. Das ist auch ein Zeichen, dass wir ein sehr ziviles Land geworden sind. Aber nun geht es auch darum, dass anders auf die Bundeswehr geschaut wird und das ist auch angemessen in dieser Lage. Die Bundeswehr muss glaubwürdig zeigen können, dass sich unser Land wehren kann, sonst haben wir ein Problem. Im Fokus ist nun militärisches Handwerk. Im Kern geht es erst mal darum, dass man einen Gegner, falls er uns attackieren würde, glaubwürdig davon abhalten könnte. Am besten Fall so glaubwürdig, dass er es gar nicht erst versucht.
Wie kommt die veränderte Wahrnehmung innerhalb der Bundeswehr an?
Das wird mit einer gewissen Befriedigung zur Kenntnis genommen, so habe ich das zumindest in den letzten Wochen wahrgenommen. Das Lob für die Bundeswehr, das sonst kam, war auch willkommen. Aber es gab auch den Eindruck, wir werden nur für Dinge öffentlich gelobt, die wir eigentlich außer der Reihe machen. Das andere, unsere Kernaufgabe, interessiert eigentlich keinen.
Die Bundeswehr soll mit einem 100-Milliarden-Euro-Paket besser ausgerüstet werden. Was haben Sie gedacht, als dieses Vorhaben und diese riesige Summe in der Politik plötzlich auf der Agenda standen?
Ich war völlig überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet. Auch nicht, dass es in einer doch großen Breite mitgetragen wird, die Regionskoalition und die Union stehen ja weitgehend hinter diesem Betrag. In der Praxis wird sich zeigen, dass die 100 Milliarden auch schnell wieder ausgegeben sind, weil viele Ausgaben anstehen, um die Bundeswehr tauglich zu machen. Allein beim Punkt Munitionsvorräte auffüllen geht es laut Schätzungen schon um bis zu 18 Milliarden Euro. Das heißt ja auch: Bis jetzt gibt es eben zu wenig Munition. Das wissen die Soldaten und ärgern sich schon lange darüber, aber außerhalb wurde das lange kaum wahrgenommen.
Welche Risiken sehen Sie bei einer so großen Investition?
Bei einem großen Berg Geld besteht das Risiko, dass bei einzelnen Ausgaben eventuell nicht genau hingeschaut wird. Weil man womöglich unter Zeitdruck steht, nach dem Motto: „Jetzt habt ihr so viel, nun macht aber auch mal.“ Die Beschaffung bei der Bundeswehr hat immer lange gedauert. Das lag auch an Verwaltungsabläufen. Bei den Rüstungsausgaben herrschte nicht selten auch eine Rücksichtnahme, die eigenen wirtschaftlichen Strukturen zu stärken. Nun hoffe ich, dass man zügig die besten Sachen kauft, die man bekommen kann. Und nicht danach entscheidet, ob die Rüstungsfirma in irgendeinem Wahlkreis einen großen Auftrag bekommt.
Die Bilder vom Krieg in der Ukraine zeigen viele Grausamkeiten. Können Sie sich vorstellen, wie Menschen vor Ort damit überhaupt umgehen können?
Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, wie Menschen, die das gerade erleben, irgendwann wieder in eine Normalität zurückfinden. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, die Bedrohung bleibt. Die Ukraine wird, egal wie es irgendwann ausgeht, lange eine traumatisierte Gesellschaft sein.
Haben Sie eine Ahnung, wie Soldaten, Zivilisten, Helfer, Journalisten, es ertragen, Tag für Tag inmitten solcher Gräuel zu sein?
Ich habe mit Soldaten gesprochen, die im Bosnienkrieg waren und dort Massengräber geöffnet haben. Bei mir ist der Gedanke entstanden, dass Menschen, die vor Ort Aufträge haben, die ihnen sinnvoll erscheinen, Dinge anders ertragen. Dinge, die man als bloßer Zuschauer nicht ertragen will und auch nicht ertragen muss. Ob man nun Leichen umbettet, damit sie würdig bestattet sind. Oder als Journalist dokumentiert, was passiert, weil die Weltöffentlichkeit es erfahren muss und spätere Strafverfolgung davon abhängt.
Die Bilder aus dem Krieg prasseln aus der Ferne auf uns ein, Tote, zerstörte Städte, verzweifelte Menschen. Wie gehen Sie damit um?
Ich weiß, dass ich eine bestimmte Menge an Bildern ertrage, aber dann ist es auch erst mal genug. Ich versuche, vorsichtig damit umzugehen. Trotzdem habe ich ein großes Interesse. Ich nähere mich dem Krieg häufig über Hintergrundberichte und Einordnungen. Und ich habe mir angewöhnt, rückwärts zu schauen. Ich betrachte Ereignisse einige Zeit später noch mal, um zu erfahren, was dann an Fakten und Zusammenhängen bekannt ist. Im ersten Moment entsteht meist kein komplettes Bild.