Anders als bei den Runden Tischen der vergangenen Wochen wirkt die Atmosphäre am Donnerstag Abend fast unwirklich: Keine Ringbestuhlung, kein Fishbowl-Tisch mit Mikrofonen für wechselnde Redner, keine hitzigen oder bedachten Statements, keine hochkochenden Emotionen. Stattdessen vorn akademisch-konventionell ein Mann am Pult, der in diesen Stunden auch anderes tun könnte, der sich aber als Rufer in der Wüste weiterhin in der Pflicht sieht. Im Dezember 2014 war er einer der Ersten, der von Halle aus für den Umgang mit den Pegida-Teilnehmern zu Analyse, Differenziertheit und Verstehen-Wollen aufrief. Gleichzeitig warnte er vor einer Verteufelung der Bewegung, die sich mit ihren Ängsten, Bedenken, Vorbehalten und ihrem Ärger plötzlich bei montäglichen Spaziergängen öffentlich Bahn brach. Auch am Donnerstag tritt er dafür ein – nur mit ein paar schriftlichen Stichworten vor sich (<media 1399>zum überarbeiteten Manuskript</media>), wie immer.
Verhärtete Fronten
„Gehört diese Stadt auf die Couch?“ greift er zunächst die Frage auf, die Frank Richter im Zusammenhang mit dem 13. Februar vor zwei Jahren schon einmal zugespitzt und ratsuchend gestellt hat. Maaz bekennt seine Angst angesichts der zunehmenden, starken Spaltung und verhärteten Fronten in Dresden, „die ja auch ein Zeichen für eine Spaltung in uns selbst sind.“
Auf der Suche nach den Gründen dafür und nach der Wahrheit, „die immer nur meine subjektive Wahrheit sein kann“ gelangt er schnell zu der noch immer unbearbeiteten, kollektiven Schuld im Hinblick auf das Dritte Reich und den Holocaust. „Auch symbolische Gedenkakte können meine Sorge nicht trösten, dass so etwas jederzeit wieder passieren kann, so lange wir das kollektive Versagen nicht als individuelle Schuld realisieren und verarbeiten.“
Ebenso wenig seien bis heute die Wende und ihre verunsichernden Folgen für die DDR-Bevölkerung bewältigt: „Ich war 1989 beseelt von der Chance, die wir hatten. Aber statt an uns zu arbeiten, haben wir uns für 100 Mark Begrüßungsgeld verkauft!“ Diese Enttäuschung macht Maaz noch immer zu schaffen. Er spricht auch von seinen großen Befürchtungen angesichts der weltweiten Entwicklungen, von der Schere zwischen Arm und Reich, der Umweltzerstörung, dem Verlust an Stabilität durch die Globalisierung und dem unablässigen Drängen nach einem Mehr, Höher, Weiter – von Phänomenen, die er in seinem aktuellen Buch „Die narzisstische Gesellschaft“ thematisiert.
Das gleiche destruktive Prinzip
Egal, ob Drittes Reich, DDR-System, die Welt oder Dresden: Maaz sieht in allen Gesellschaftsformen das gleiche destruktive Prinzip wirken. Fehlentwicklungen wie Intoleranz, Gewalt und Krieg liegen für den Tiefenpsychologen in den frühkindlichen Erfahrungen des Einzelnen begründet: „Wer autoritär aufgewachsen ist, wer in seiner Familie nicht wirklich gesehen und wahrgenommen wurde und wessen Gefühle und Empfindungen nicht respektiert wurden, ist nicht zu Toleranz gegenüber anderen und zu Demokratie fähig. Wirkliche Toleranz und Demokratie sind erst dann möglich, wenn das eigene seelisch Unterdrückte und die eigenen seelischen Minderheiten bewältigt wurden. Äußere Demokratie kann es nur geben, wenn innere Demokratisierung stattgefunden hat.“
Das ist harte, schwer verdauliche Kost, die ans Eingemachte geht – kein weicher Löffelbrei. Aber Maaz kennt das, wovon er spricht, aus eigener Erfahrung: Schon als Kind hat er das Sich-Unverstandenfühlen erlebt, dann während der Vertreibung der Familie aus dem Sudetenland und später innerhalb des DDR-Systems. Zwischen 1980 und 2008 leitete er unter dem schützenden Dach des Diakoniewerkes Halle eine tiefenpsychologisch arbeitende Klinik mit eigenem Konzept und nach westlichen Standards. Heute führt die nach ihm benannte „Hans-Joachim Maaz Stiftung Beziehungskultur“ sein Lebenswerk fort.
Beschäftigung mit den eigenen Abgründen
Hans-Joachim Maaz fordert die Beschäftigung mit den eigenen Abgründen nicht nur von anderen; er verlangt sie seit Jahrzehnten auch sich selbst ab. Das macht ihn authentisch und seine Überzeugungen glaubwürdig. Diese gelten in Maaz' Augen auch für die Dresdner Demonstranten und Gegendemonstranten, die sich bei der Bekämpfung der jeweils anderen Seite besonders leidenschaftlich engagieren. „Wenn das Verhältnis zwischen dem Anlass und der persönlichen Reaktion nicht angemessen scheint, frage ich mich automatisch: Welche weiteren, innerseelischen und belastenden Motive mag derjenige wohl für sein Engagement haben? Das gilt ja für uns alle: Was will ich vielleicht nicht sehen und versuche es bei anderen zu bekämpfen, obwohl es eigentlich zu mir gehört? Welche eigenen Anteile verstecke ich vor mir, weil sie nicht zu meinem Selbstbild passen?“
Maaz sieht durch Pegida diese unwillkommene Wahrheit verkörpert, die ins Dunkle, Nicht-mehr-Sichtbare abgedrängt werden solle. „Als äußere Beispiele könnten Gegenreaktionen wie die Verdunkelung von Gebäuden oder die Auskehr mit Besen angesehen werden. Die Frage ist doch: Was soll denn da eigentlich verdunkelt und weggefegt werden? Was soll wirklich unter den Tisch gekehrt werden? Wir sind ja eben nicht nur weltoffen, bunt und tolerant! Ein Teil in uns hat nun einmal auch Angst vor dem Fremden, Neuen, Ungewohnten. Das ist etwas ganz Normales. Auch die Angst vor einer Islamisierung ist natürlich – die habe ich angesichts der aktuellen Entwicklung auch. Es muss doch erlaubt sein, diese Angst zu äußern, ohne als Rassist diffamiert zu werden!
Zu überzogenen, irrationalen Gegenreaktionen, wie wir sie jetzt erleben, kommt es nur dann, wenn wir uns unsere eigenen Anteile nicht eingestehen wollen, sondern diese verdrängen und verbieten. Die Unversöhnlichkeit mit anderen weist uns also im Grunde auf eine Unversöhnlichkeit mit eigenen Unzulänglichkeiten hin, die wir nicht wahrhaben wollen.“
Gemeinsam die Spaltung gestalten
Auf Dresden bezogen bedeute dies, dass Pegida-Anhänger und ihre Gegner bei Grünen und Linken mit ihrem Kampf gegeneinander gemeinsam eine Fehlentwicklung, die Spaltung, gestalteten. „Damit wehren sie die Erkenntnis ab, dass sie in ihrer Gesellschaftskritik eigentlich ganz nah beeinander sind und sich gegenüber der Regierung gemeinsam für ihre Ziele zusammentun müssten.“
Protest als solchen hält Hans-Joachim Maaz für durchaus positiv und belebend. Schließlich stehe er für die Fähigkeit, „Nein“ und „Ich“ zu sagen, diene dem Selbsterhalt und dem Schutz der Würde sowie als gesunder Widerstand. Erst zurückgedrängter, aufgestauter Protest mache krank und führe zu einem Aufbau von Spannung. Die seelischen Folgen, die solche Repression für die Bevölkerung der DDR hatte, analysierte Maaz in seinem 1990 erschienenen Buch „Der Gefühlsstau“ und traf damit den Nerv einer ganzen Nation.
Was wir tun können
Maaz nimmt heute wieder die Politik, aber auch die Medien und Gegendemonstranten in die Verantwortung: „Wer nicht klären und verstehen will, sondern Pegida beschimpft, abwertet und ausgrenzt, stiftet letztlich selbst zu Gewalt an. Wie viel angemessener wäre es gewesen, wenn Angela Merkel anstelle ihrer pauschalen Diffamierung gesagt hätte: „Ich vermute, dass es in Dresden einige Menschen gibt, die Kälte und Hass in ihren Herzen tragen. Das macht mir Sorge. Lassen Sie uns schauen, was wir falsch gemacht haben.“
Das Eingeständnis eigener Fehler wäre mehr als ein Symbol. Auch diese sind wichtig, besonders in aufgeladenen Situationen. So will Maaz auch seinen Vortrag in Dresden verstanden wissen. Im vollbesetzten Festsaal des Stadtmuseums Dresden stellt er sich ausdrücklich an die Seite des Direktors der Landeszentrale, Frank Richter, und dessen Mannschaft. Auch den Politologe Werner J. Patzelt von der TU Dresden bezieht er in den symbolischen Schulterschluss mit ein. Beide waren in den letzten zwei Monaten massiven Angriffen durch Politiker, Medien und Gegenbewegung ausgesetzt und heftig attackiert worden. Sie gerieten vor allem deshalb unter Druck, weil sie sich um Verstehen und Austausch bemüht hatten.
Am Ende seines Vortrags stellt Hans-Joachim Maaz sich geduldig den Fragen der Zuhörer – auch hier weiß er wohl, dass er für viele in fremden Zungen spricht. Ein junger Psychologe möchte zum Schluss wissen, was er denn selbst tun könne, um Veränderungen in Gang zu setzen. Und Maaz gibt ihm und der Zuhörerschaft noch einmal mit auf den Weg: „Fangen Sie bei sich selbst an. Und arbeiten Sie dafür, dass Sie gute Beziehungen haben. Mehr können Sie nicht tun – aber das ist schon viel.“
Susanne Voigt, Freie Journalistin und Texterin
Sonderseite zum Thema: Wir müssen reden!
<media 1399 - - "TEXT, 2015-02-05 Maaz Psychodynamik von Protest und Gegenprotest, 2015-02-05_Maaz_Psychodynamik_von_Protest_und_Gegenprotest.pdf, 63 KB">Redemanuskript</media> von Hans-Joachim Maaz