Es war am 18. Dezember 2008. Wenige Wochen zuvor war am Gymnasium Dreieichschule Langen (Hessen) eine Projektwoche zu Ende gegangen, in der sich Schüler mit dem Fall der Berliner Mauer und den historisch-politischen Ursachen des Untergangs der DDR beschäftigt hatten. Als Ossi, der von der Friedlichen Revolution in Dresden zu berichten wusste, war ich ein gefragter Mitgestalter. Es war mir gelungen, Frau Dr. Aris vom Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und Frau Meyer, vormals Mitarbeiterin in der Dresdner Außenstelle der Gauck-Behörde, nach Langen zu holen. Die Damen gaben authentisches Zeugnis von einem untergegangenen Land namens DDR, von einem staatlich organisierten Unterdrückungsapparat, von mutigen Dissidenten und vom alltäglichen Leben ganz normaler Menschen.
Seiner Fehler bewusst, sprach er offene Worte
Am Ende der Projektwoche äußerten die Schüler die einfache und gleichwohl überraschende Frage, ob es möglich wäre, mit einem ehemaligen SED -Funktionär zu sprechen. Ja, fragte auch ich mich, warum eigentlich nicht? Wenn er sich kritischen Fragen stellt. Die westsozialisierten Schüler fragten herrlich unbefangen. Einige von ihnen waren türkischer oder chinesischer Herkunft. Ich griff zum Hörer und rief Günter Schabowski an.
Ich hatte Schabowski bereits in mehreren, persönlichen Gesprächen als einen scharfsinnigen Zeitgenossen, einen reflektierten, sich selbst infrage stellenden Kommunisten und als einen Menschen kennen gelernt, der zuhören konnte. Er hatte sich mehreren Diskussionen in der Konrad-Adenauer-Stiftung gestellt. Er war meiner Einladung zu einem Vortrag nach Offenbach gefolgt, in dem es ihm gelang, den Zuhörern im tiefen Westen der Republik den Werdegang eines jungen Menschen in den Anfangs- und Aufbaujahren der SBZ und der DDR zu erklären. Viele von ihnen sagten danach, in ihren pauschalen Negativurteilen erschüttert worden zu sein. Ich erlebte, dass er sich von mir aufklären ließ über die wichtigsten Stationen der Kirchengeschichte und den Kern des christlichen Credos. Am Ende eines langen Gespräches verglich er das Politbüro mit der Glaubenskongregation und lachte dabei schallend. Schabowski hatte Humor. Er hatte Ideale. Als seine Ideale zerbrachen und er sich seiner Fehler bewusst wurde, sprach er offene Worte.
Schabowski wich keiner Frage aus
Wie schon gesagt, ich griff zum Hörer. Die Nummer stand im Berliner Telefonbuch. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Günter Schabowski. Ich erklärte ihm kurz, wer ich sei. Er erinnerte sich. Ich fragte ihn, ob ich ihn mit einer hessischen Schülergruppe in Berlin besuchen könnte. Nach kurzem Zögern willigte er ein. „Wahrscheinlich wollen die mit einem alten Kommunisten über den Mauerfall reden. Na klar, das machen wir.“ Und so geschah es.
Das Treffen fand am 18. Dezember 2008 in einer Berliner Schule statt. Es dauerte über zwei Stunden. Schabowski wich keiner Frage aus, auch der nicht, die sich auf seine Mitverantwortung für das Grenzregime der DDR bezog, durch das viele Menschen ihr Leben verloren hatten. Ein Schüler bat ihn am Ende um eine Lebensweisheit. Günter Schabowski schrieb sie auf einen Bogen Papier. „Der Grundfehler meiner ersten Lebensphase bestand darin, das Richtige im Falschen zu versuchen.“ Ob man ihm glauben kann? Ich weiß es nicht ganz genau.
Ich weiß, dass ich in ihm einem intelligenten und streitbaren Mann begegnen durfte, dessen ideologische Position ich in der DDR konsequent abgelehnt hatte, der mich in der unmittelbaren Begegnung beeindruckte und in dem ich - besonders in seiner Fähigkeit zum aufrichtigem Eingeständnis begangener Fehler - wahre Menschlichkeit erfuhr. Ich bin traurig, dass er tot ist.
Frank Richter