Die Friedliche Revolution jährt sich zum 25. Mal. 2014 dürfte das vorerst letzte, aufwendig begangene Jubiläum stattfinden. Pünktlich zum Jahrestag hat Wolfgang Berghofer, Dresdens Oberbürgermeister von 1986 bis 1990, ein Buch vorgelegt, in dem er beschreibt, wie er die „Wende“ erlebte. Bereits 2001 hatte er sich in „Meine Dresdner Jahre“ geäußert. Warum also ein Nachschlag? Gibt es neue Erkenntnisse?
Kleine, schmutzige, menschenverachtende Lüge DDR
Sachkundigen Lesern dürfte es schwer fallen, solche zu entdecken. All jenen, die sich noch nicht oder nur oberflächlich mit dem historischen Gegenstand beschäftigt haben, verschafft die autobiografisch angelegte Darstellung einen interessanten Zugang. Sie entwickelt das Selbstverständnis eines SED-Funktionärs. Der Autor erläutert seinen Aufstieg im Partei- und Staatsapparat. Er berichtet von seiner Tätigkeit als Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Er beschreibt, wie er Oberbürgermeister wurde und sich einbinden ließ in die Fälschung der Kommunalwahlen, die ihren Namen nicht verdienten. Er bezeichnet die DDR im Nachhinein als „staatsgewordene Schizophrenie“. Er legt Wert auf die Feststellung, nicht Partei-, sondern Staatsfunktionär gewesen zu sein. Er überrascht mit bemerkenswerten Formulierungen wie z. B.: „Als große, liebenswerte Utopie, das Paradies auf Erden verheißend, erblickte die DDR 1949 das Licht der Welt. Als kleine, schmutzige, menschenverachtende Lüge verließ sie den Globus wieder.“
Ihm ist zuzustimmen, wenn er schreibt: „Ich habe vermutlich einen nicht unwichtigen Beitrag zur Gewaltlosigkeit geleistet. Dafür muss ich mich nicht schämen. Wahr aber ist auch, dass nicht ich die Revolution gemacht habe, sondern die Tausenden auf den Straßen, die alles riskiert haben, nicht wissend, ob sowjetische Panzer rollen oder ob die Sicherheitskräfte ihres eigenen Staates mit Gewalt reagieren würden.“
Erinnern ist auch vergessen
Unerträglich war, dass die „Sicherheitskräfte“ im Oktober 1989 in Dresden (nicht nur dort, aber auch dort, wo Berghofer Bürgermeister war) tatsächlich mit brutaler Gewalt reagiert haben. Sie taten dies nicht nur am 4. Oktober am Hauptbahnhof. Sie taten dies ebenso am 5., 6., 7. und 8. Oktober. Schwer erträglich ist, dass der Autor dies nur beiläufig erwähnt. Ihm ist zuzustimmen, wenn er den 8. Oktober in Dresden als eine Zäsur bezeichnet, als einen Tag, an dem die Macht ihr unsägliches Schweigen beendete und in den Dialog mit der Opposition eintrat. Schwer erträglich ist sein gelegentlich spöttischer Unterton; schwer erträglich, dass er immer dann, wenn er von der Gruppe der 20 schreibt, das Wort Opposition in Anführungszeichen setzt. Er gehörte einer Partei an, die dafür verantwortlich war, dass sich die Opposition nicht frei organisieren und an reguläre Wahlen teilnehmen konnte, sondern sich auf den Straßen finden und von dort aus den Zutritt zu den Konferenzsälen der Mächtigen erzwingen musste.
Wer sich bei der Lektüre hin und her gerissen fühlt, möge daran denken, dass all das, was ein Mensch über seine eigene Vergangenheit und über andere Menschen äußert, immer auch etwas sagt über seine eigene Gegenwart und über ihn selbst. Erinnern ist immer auch vergessen. Es kann nicht anders sein. Was Zeitzeugen berichten, bereichert die Geschichtsschreibung ungemein. Manche Zeitzeugen wissen dies und erweisen sich als besonders kokett. Was Zeitzeugen berichten, ist zu überprüfen. Wolfgang Berghofer ist nicht der einzige Zeitzeuge, der uns über die Jahre der „Wende“ zu berichten weiß. Was er dem Leser leider schuldig bleibt, ist eine ernsthafte Auskunft über sein politisches Credo. Welche Ideale hat er heute? Welche Überzeugungen treiben ihn? Was ist übrig geblieben außer der wohlfeilen Wertschätzung der Freiheit, außer der offensichtlich gut ausgeprägten ökonomischen Intelligenz? Hat er uns wirklich nicht mehr zu bieten als realpolitischen Pragmatismus?
Fotos über Fotos, aber keine Figur im Spiel?
Dass Wolfgang Berghofer abschließend und sehr allgemein bekennt, sowohl patriotische, als auch linke, liberale, konservative und alles in allem bürgerliche Positionen in sich zu vereinigen, irritiert und macht ein wenig verlegen. Sein Buch enthält zahlreiche Abbildungen, darunter 40 Fotos: Wolfgang Berghofer allein, Wolfgang Berghofer in diversen Zeitungen, Wolfgang Berghofer mit Wolfgang Stumph, Willi Stoph, Klaus von Dohnanyi, Henning Voscherau, Horst Sindermann, Erich Honecker, Gregor Gysi, Helmut Kohl, Otto Schily, Lothar Späth, Manfred von Ardenne, Martin Flämig, Tyll Necker, Kurt Biedenkopf, Lothar de Maiziere, Rita Süßmuth, Wjatscheslaw Kotschemassow, Rainer Eppelmann und anderen mehr…
War das nötig? Bleibt der Autor auch im Titel des Buches unter seinen Möglichkeiten? Er behauptet, „keine Figur im Schachspiel“ gewesen zu sein. Das ist aus zweierlei Gründen falsch. Erstens, weil die Politik weder 1989 ein Spiel war, noch heute ein Spiel ist. Die Ereignisse der Jahre, von denen Wolfgang Berghofer berichtet, waren das ernsthafte Werk von konkreten Menschen, unter anderen von Wolfgang Berghofer. Die Ereignisse waren das ernsthafte Werk von Menschen, die wussten, was sie taten und die für das, was sie taten, verantwortlich sind. Und zweitens, weil auch Wolfgang Berghofer eben doch eine „Figur“ war, eine von vielen ernst zu nehmenden „Figuren“ auf dem Feld der politischen Auseinandersetzung, eine „Figur“, die eben nicht von X oder Y hin und her geschoben wurde, sondern persönlich zum friedlichen Verlauf der Revolution beitrug. Indem der Autor seinem Buch einen seltsamen Titel gibt, verkauft er sich selbst unter Wert.
Sollte man ihm das durchgehen lassen? Muss er sich das selbst durchgehen lassen? Ich wünsche mir ein weiteres Buch von ihm, eines ohne Rechtfertigung, eines ohne Beschuldigungen, eines mit weniger Ego und mit mehr Tiefgang, ein Buch, bei dessen Lektüre ich nicht mehr hin und her, sondern nur noch hin gerissen bin.
Frank Richter ist Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und war 1989 Mitbegründer der Gruppe der 20
Der Beitrag erschien am 9. Juli 2014 in der Sächsischen Zeitung