Europa lebt von Austausch und persönlicher Begegnung
Stärkere Vernetzung im Dreiländereck geplant
Europa als Gemeinschaft scheint mitunter fern, obwohl Deutschland, Polen und Tschechien mittendrin liegen. Wie stark ist der europäische Gedanke hier verwurzelt? Sollte man ihn stärken? Und wie kann das gelingen? Die trinationale Vernetzung europapolitischer Akteurinnen und Akteure sei schon lange ein Wunsch von ihm gewesen, sagte Roland Löffler, Direktor der Landeszentrale (SLpB), bei der Eröffnung der Tagung am Mittwoch. „Eines unserer Ziele als Landeszentrale war, dass wir unserer Position im Dreiländereck besser nutzen.“ Europa gehöre in Schulbüchern zu einem Standardthema, dennoch gäbe es in der Bevölkerung oft ein Gefühl der Distanz zu Europa und zur EU, so Löffler. „Das heißt für uns als Politik-Didaktiker auch, dass wir überlegen müssen: Wie nähern wir uns dem Umgang mit Europa nochmal anders an?“
Konzipiert wurde die trinationale Tagung von Ivo Vacík, Europa-Referent der SLpB. „Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Tschechien und Polen hat für den Freistaat Sachsen Verfassungsrang“, so Vacík. „Es freut mich sehr, dass wir bei dieser ersten Vernetzungstagung unsere Zusammenarbeit vertiefen können. Auch im Hinblick auf die anstehende Europawahl 2024.“
Was sind die größten Herausforderungen?
Die Kernfragen der Tagung lauteten unter anderem: Welche Europa-Themen sind relevant? Wie kann man sie in Schulen und in der Gesellschaft besser vermitteln? Was sind die größten Herausforderungen für die europapolitische Bildung: wachsender Populismus, Euroskeptizismus, Desinformation, autoritäre Tendenzen und Rechtsextremismus? Dazu fanden an beiden Tagen Diskussionsrunden, Workshops und Vorträge statt. Unter den knapp 100 Teilnehmenden waren Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Lehrkräfte sowie Expertinnen und Experten von Initiativen und Vereinen, die Europa als Thema behandeln oder Interesse daran haben.
Beteiligungskultur in Ostmitteleuropa
Über die Wahrnehmung von Europa und die Beteiligungskultur Ostmitteleuropas sprach am ersten Tag Astrid Lorenz, Professorin für das Politische System Deutschlands und Politik in Europa an der Universität Leipzig. Der Fokus ihres Vortrags lag auf ländlichen, peripheren Regionen in osteuropäischen Ländern. Dort hat sie geforscht und dafür mit jungen Menschen, etwa an Berufsschulen, diskutiert. Bei ihren Untersuchungen habe sie sich auf die Jugend konzentriert, „weil sie die Zukunft sind, und wir wissen wollen, was sie denken“, erklärte Lorenz. In ihrem Vortrag brachte sie exemplarische Zitate von Schülern und Schülerinnen ein: „Ich wusste nicht einmal, dass eine Europa-Wahl war“, habe zum Beispiel ein Schüler in Tschechien geäußert. Sie brauche keine Pässe an europäischen Grenzen, so eine Schülerin in Ungarn: mehr falle ihr zu Europa nicht ein, das spiele keine Rolle in ihrem Leben.
Astrid Lorenz hat bei diesen Begegnungen die Distanz junger Menschen zu Europa wahrgenommen. Insgesamt sehe man in vielen osteuropäischen, post-sozialistischen Ländern ein anderes Verhältnis zur Gesellschaft und dem politischen System als in Westeuropa. „In Ostmitteleuropa ist die Beteiligungskultur anders ausgeprägt“, sagte die Wissenschaftlerin. Das Interesse an „formaler Beteiligung“ sei beispielsweise geringer, etwa bei Parteimitgliedschaften oder Wahlen, auch die Teilnahme bei Europa-Wahlen falle tendenziell niedriger aus als in anderen europäischen Ländern.
Wie denkt die Jugend über Europa?
Mit Blick auf die Jugend sei das Bild jedoch differenziert. Es gäbe zwar einen gewissen Abstand zu europäischen Themen, jedoch keine grundsätzliche Ablehnung. „Europawahlen werden als nachrangig wahrgenommen“, sagte Astrid Lorenz. „Aber wir haben keine ausgeprägte EU-Skepsis festgestellt.“ Ihre Empfehlungen: Europäische Themen stärker in Schulen und der Lehrerausbildung verankern, Austauschprogramme stärken und die Vernetzung zwischen Schulen und Akteuren, die sich mit europapolitischer Bildung beschäftigen, fördern.
Aus dem Publikum meldete sich eine Lehrerin aus Tschechien, sie bedankte sich für den Vortrag, das Thema treibe sie auch bei ihrer Arbeit um. Sie plädierte dafür, Untersuchungen wie die von Astrid Lorenz auszuweiten, um mehr über Einstellungen in der Bevölkerung, speziell der Jugend zu erfahren. „Das brennt mir wirklich unter den Nägeln“, sagte die Lehrerin. „Wie können die jungen Leute motiviert werden, sich an der EU-Wahl zu beteiligen?“
Um die historische Entwicklung von politischer Bildung in den drei Ländern, die aktuelle Lage und Zukunftsperspektiven drehte sich die anschließende Debattenrunde. Was veränderte sich, als es vor über 30 Jahren zu einem Umbruch der Systeme kam? Der Mauerfall, die politische Wende, sei für ihn persönlich „der Moment einer riesigen Befreiung“ gewesen, sagte Stefan Schönfelder, Referatsleiter Demokratieentwicklung und politische Bildung im Ministerium für Justiz, Demokratie, Europa und Gleichstellung. „Es wird einem bewusst, wie extrem durchideologisiert in der DDR alles war, bis hinein ins eigene Sprechen“.
Geteilte Erfahrung: Euphorie der 1990er Jahre
Er habe erlebt, dass es zu einer starken Distanzierung von staatlicher Indoktrinierung gekommen sei, damit schließlich „aber auch zu einer Überhöhung der Möglichkeiten der freiheitlichen Demokratie, die später auch zu einer Enttäuschung führte“. An die Aufbruchsstimmung von damals erinnerte auch Michael Douša, Mitarbeiter der Assoziation für internationale Fragen, einer NGO für Forschung und Bildung in Tschechien. „Es gab eine riesige Begeisterung für alles, was aus dem Westen kam: auch für die EU, für die NATO. Es gab eine Welle mit neuer Bildung, neuen Information.“ Die politische Bildung sei auch in Tschechien neu entwickelt worden, mit Fokus auf Werte wie Freiheit und Humanismus: „Das war recht revolutionär“.
Inzwischen ist die Lage teilweise schwieriger. Polen etwa hat sich zu einem Land mit rechtsautoritären Tendenzen entwickelt. „Es findet politische Bildung statt, es gibt auch finanzielle Mittel dafür“, sagte Kacper Dziekan, Projektleiter im European Solidarity Centre in Gdańsk. Doch es würden methodischen Leitbilder fehlen und die Vernetzungen zwischen Schulen und zivilgesellschaftlichen Akteuren sei schwach ausgeprägt. Ähnliches schilderte Michael Douša aus Tschechien. Er höre oft, Politik gehöre nicht in die Schule. Es sei nicht einfach, mit politischen Bildungsangeboten, etwa zu Europa-Themen, mit Schülern ins Gespräch zu kommen. Er erlebe immer wieder, dass solche Angebote in Schulen nicht erwünscht seien: „Das System ist nicht offen für Diskussionen“, sagte Douša.
Der persönliche Austausch zählt
Ein Zuhörer aus dem Publikum äußerte, dass er die Debatte hilfreich fand, sich aber auch einen stärkeren Fokus auf die Praxis wünsche. „Man muss schauen, wie man die Jugend anders gewinnt als durch formale Bildung. Ich glaube nicht, dass man sie durch Grafiken, Schautafeln und Vorträge erreicht, sondern dadurch, dass Europa für sie erlebbar wird.“ Das könnte zum Beispiel durch mehr Austausch im Dreiländereck gelingen, sagte er. Die Experten auf dem Podium stimmten dem grundsätzlich zu, auch sie waren sich einig: Es sollte nicht nur um theoretische Wissensvermittlung zu Europa gehen, wichtig seien auch Begegnungen, der persönliche Austausch zwischen Menschen aus den drei Ländern.
Europäische Zukunft gemeinsam gestalten
Um Strategien für die Zukunft ging es auch in den Workshops am Donnerstag: auf der Tagung wurden neben Podiumsdiskussionen und Vorträgen sechs Workshops angeboten – alle Konferenz-Formate waren dreisprachig und wurden simultan verdolmetscht. In einem der Workshops wurde diskutiert, wie außerschulischer Austausch besser gelingen kann: Dabei wurden Best-Practice-Beispiel aus Sachsen, Tschechien und Polen vorgestellt. In einer weiteren Runde wurde über „EU-Mythen“ und einen glaubwürdigen Umgang mit Kritik an Europa debattiert. Im Raum nebenan ging es darum, wie man Bürger und Bürgerinnen, die bisher nicht erreicht werden konnten, besser für eine aktive Teilhabe gewinnen könnte.
Europa-Referent Ivo Vacík zog nach der Tagung Bilanz: „Es war ein Vergnügen, all die angeregten Diskussionen in drei verschiedenen Sprachen zu hören – das ist gelebtes Europa! Auch neben dem Tagungsprogramm mit spannenden Debatten, Vorträgen und Workshops fand ein reger Austausch statt. Daraus können zukünftig weitere gemeinsame Projekte entstehen, die vielen neuen Kontakte, die sich hier ergeben haben, sind sehr wertvoll.“