„Fahnenwörter wie Freiheit“ - SLpB-Partnerkonferenz 2023. Teil 1
Was genau sind eigentlich die „westlichen Werte“? Gehört Weihnachten dazu, das christliche Abendland? Und schwingt nicht auch eine gewisse Arroganz mit, wenn die „westlichen Werte“ als universell betrachtet und zur Abgrenzung gegenüber autoritären Systemen wie in China oder auch Russland genutzt werden?
Seit der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022 hat die Diskussion über unser Wertesystem als gemeinsame gesellschaftliche Grundlage auf drastische Weise an Aktualität gewonnen: In Europa ist Krieg. Sich angesichts dessen als „westliche Wertegemeinschaft“ zu verständigen und zu handeln, liegt nahe. Doch die Vertiefung der Debatte wirft auch die Frage auf: Wer gehört eigentlich dazu, wenn man diese „westliche Wertegemeinschaft“ eingrenzen will?
Für ihre jährlich stattfindende Partnerkonferenz am 27. September 2023 in Leipzig hatte die Landeszentrale dieses vielschichtige Thema bewusst ausgewählt. Im Fokus des Veranstalters war die dahinterliegende Frage, wie Demokratie und politische Bildung mit der allgemein konstatierten „Krise der westlichen Wertegemeinschaft“ umgehen können.
In seinen Eingangsworten umriss Roland Löffler, Direktor der SLpB, das Konzept der westlichen Werte und beschrieb auch die Herausforderungen und Krisen: So wirke aktuell der soziale Frieden in Deutschland wackelig, weil der Sozialstaat oft überfordert scheine. International sei das Konzept „Wandel durch Handel“ offenkundig gescheitert. Und in der politischen Bildung stehe eine Vielzahl an Demokratie-Projekten der Verrohung der Debatte und einer immer gereizteren Gesellschaft gegenüber. Viele Bürgerinnen und Bürger kehrten den politischen Parteien den Rücken. Was also tun?
Sind die westlichen Werte universell?
Im anschließenden, international besetzten Podium ging es darum, erst einmal Begriffe zu klären und das Thema anhand verschiedener Beispiele zu konkretisieren.
Die Schriftstellerin Marlen Hobrack warf die Frage nach der Universalität auf: „Es gibt gar keine Dichotomie zu den westlichen Werten“, kritisierte sie. „Fahnenwörter wie Freiheit“ würden oberflächliche Verbundenheit schaffen, weil ja niemand Unfreiheit anstreben würde. Sie vermisse in den Aufzählungen immer auch den Hinweis, dass offenkundig Marktwirtschaft ein tragendes Element sei.
Christoph von Marschall, Diplomatischer Vertreter der Chefredaktion des Tagesspiegels, antwortete darauf, für ihn seien die westlichen Werte durchaus universell: „Länder wie China versuchen ja nachzuweisen, dass ihre Gesellschaften diese Werte auch erreichen.“ Er würde allerdings lieber von einem „globalen Westen“ als von westlichen Werten sprechen, schließlich gäbe es in anderen Regionen der Welt auch funktionierende Demokratien.
Ausbeutung osteuropäischer Arbeitskräfte
Die Journalistin Apolena Rychliková berichtete von Erfahrungen in ihrer Heimat Tschechien und dem Blick der post-kommunistischen Länder auf die westlichen Werte: Sie identifiziere den Westen eher mit Kapitalismus und freier Marktwirtschaft und weniger mit Freiheit, sagte sie. Damit erklärte sie auch die Enttäuschung vieler Menschen in Osteuropa, die unter dem „Raubtierkapitalismus gelitten haben oder noch leiden“. Hinzu käme: Viele Osteuropäer und Osteuropäerinnen hätten als Arbeits-Migranten in westeuropäischen Ländern die Erfahrung der Ausbeutung gemacht. Dies zeige, so Rychliková, dass die hochgelobten „Werte des Westens“ manchmal auch nur Worthülsen seien.
Transparenz und Regulierung
Transparency-International-Geschäftsführerin Dr. Anna-Maija Mertens forderte mehr Kontroversen über konkrete Inhalte der Werte – etwa zu der Frage: „Was meinen wir mit Gerechtigkeit?“ Es gäbe schließlich jede Menge Zielkonflikte darüber, was genau unter Gerechtigkeit, besonders in den Bereichen Wirtschaft und Soziales zu verstehen sei. Dies müsse die Gesellschaft offen aushandeln. Ganz klar außerhalb der westlichen Werte sieht Mertens die Korruption, da helfe nur „größtmögliche Transparenz.“
Der Online-Experte Jakob Guhl berichtete schließlich von seiner Arbeit am Institute for Strategic Dialogue (ISD), einem Londoner Think-Tank. Das ISD hat sich innovativen Lösungen gegen Extremismus und Polarisierung zum Schutz der Demokratie im digitalen Zeitalter verschrieben. Die westliche Welt habe viel zu lang gebraucht zu erkennen, so Guhl, „dass die sozialen Netzwerke wie jede andere Industrie einer Regulierung und gewisse Standards benötigen“. Die verschiedenen Akteure wie China oder Russland, aber auch viele Extremisten wüssten es für sich zu nutzen, „wie man die entscheidenden Bias und die systematischen Schieflagen auf diesen Plattformen“ nutzen könne, um die Demokratien durch gestreute Unsicherheit und Zweifel zu destabilisieren.
Debatte um Meinungsfreiheit zu eng?
Es schloss sich eine rege Diskussion auf dem Podium an, die hier nur in Schlaglichtern wiedergegeben werden kann. Diskutiert wurde etwa über die von Marlen Hobrack aufgeworfene These, dass der Schutz der Meinungsfreiheit in den sozialen Netzwerken missverstanden werde und eher den Demokratiefeinden und Extremisten den Weg bereite. Guhl und von Marschall hielten dagegen: „Ich habe häufig das Gefühl, wir führen die Diskussion um die Meinungsfreiheit zu eng“, sagte Guhl. Viele Menschen würden in Umfragen auch immer wieder die sogenannte Cancel Culture kritisieren und damit indirekt fordern, mehr sagen zu dürfen.
Christoph von Marschall unterstützte das. Er verwies darauf, dass bestimmte Verständigungen, die in Deutschland Konsens seien, in anderen Ländern der Welt nicht unbedingt geteilt würden. Er brachte als ein Beispiel die Sicht auf die EU: Während in Deutschland die europäische Gemeinschaft als alternatives Konzept zum Nationalismus betrachtet würde, werde das in anderen Mitgliedsstaaten nicht im Ansatz so gesehen.
Debattiert wurde auch über die Frage, ob die Masken-Affäre diverser deutscher Bundestagsabgeordneter der Demokratie geschadet habe. Anna-Maija Mertens hielt fest, es sei erstaunlich, dass solche Fälle des Amtsmissbrauchs in Deutschland überhaupt möglich wären. Zwar habe man die Regeln nun verschärft, „aber es kann doch nicht sein, dass immer erst etwas passieren und in der Folge strengere Regeln erlassen werden müssen“, kritisierte sie. Tagesspiegel- und Buchautor von Marschall hielt dagegen: „Die betroffenen Fraktionen haben die Mitglieder ausgeschlossen, es gab eine mediale Ächtung des Verhaltens – hat das nicht gezeigt, dass unser Wertesystem funktioniert?“
„Lassen wir die offenen Debatten zu“
Von Marschall brachte eine spannende Perspektive in die Diskussion: „Die Geschichte der westlichen Werte ist im Grunde die Geschichte, wie der Westen gegen seine eigenen Werte verstoßen hat“, sagte er. Der Unterschied zu anderen Systemen liege aber darin, dass die westlichen Gesellschaften zur Korrektur fähig seien und die Werte immer wieder diskutieren würden. „Lassen wir die offenen Debatten zu“, sagte er – und verwies darauf, dass sich Werte im Laufe der Zeit immer auch verändert hätten.
Die Krise der westlichen Wertegemeinschaft sei zuallererst eine Vertrauenskrise, befand dagegen Apolena Rychliková: Es fehle an Vertrauen in den Staat und die Zivilgesellschaft. Dabei müsse sich die eigentliche Kritik doch am Kapitalismus abarbeiten. Marlen Hobrack stimmte ihr in Teilen zu: Viele Ostdeutsche hätten großen Frust, weil sie doch dem Wertesystem entsprechend in ihrem Leben einiges geleistet hätten, jetzt aber Sorge um die Zukunft und das Erreichte hätten. „Wenn nichts mehr funktioniert, funktioniert der Nationalismus“, betonte Rychliková zum Ende der Auftaktdiskussion. Und schloss mit dem Statement: „Wir müssen uns fragen, mit was wir den Nationalismus als Bindeglied ersetzen können.“
Teil 2 der Tagungsdokumentation
Programm, Hintergrundinformationen und Ergebnisse finden Sie in unserer Konferenz-App Im Programm-Bereich sind alle Programmpunkte und Mitwirkende hinterlegt. Die Workshop-Ergebnisse sind bei den jeweiligen Workshops abgespeichert.