Vor ihnen steht Henriette Kretz, eine kleine schmächtige Frau. Sie ist voller Energie und will erzählen von ihrer Kindheit, welche sie nicht hatte, die ihr die Nationalsozialisten raubten. Dabei geht es Henriette Kretz nicht um bloße Geschichtsvermittlung, sie will auch nicht anklagen. Henriette Kretz sieht ihre Erlebnisse von Hass und Ausgrenzung im aktuellen Kontext: „Meine Geschichte hat mit uns heute zu tun. Die Deutschen damals waren keine geborenen Ungeheuer, aber mit Fanatismus und Propaganda kann man jeden Menschen dazu bringen.“
Es geht immer um Menschen
Später wird sie mit den Schülern über Pegida sprechen, aber ihr Horizont ist weiter. In unserer globalisierten Welt gehen Hass, Fanatismus und Ausgrenzung alle etwas an, ganz gleich wo, denn die Wege sind kurz, die Welt ist klein. Es geht auch nicht vordergründig um Nationen, Religionen und Ideologien – es geht immer ganz konkret um Menschen.
Henriette Kretz, will verhindern, dass immer mehr Kinder ihrer Kindheit beraubt werden, wie es ihr geschah. Ihre Kindheit begann glücklich im damals polnischen Lemberg. „Ich hatte alles. Liebe Eltern, Freunde, Freiraum zum Spielen. Ich hatte sogar einen Hund, Rolf hieß er. Es war schön, ich war ein ganz normales Kind.“
Geraubte Kindheit
Dann kam der Krieg und nahm ihr alles. Mit dem Einmarsch der Deutschen spielte ihr jüdischer Glauben plötzlich eine zentrale Rolle. Sie wurde mit dem Davidstern markiert und stigmatisiert. Die Familie musste ins Ghetto ziehen und Henriette verlor ihre polnischen Spielkameraden. Eines Tages wurden alle Bewohner zusammen getrieben. Ein ukrainischer Soldat, ehemaliger Patient des Vaters, ermöglichte die Flucht. Henriette kam bei einer polnischen Bäuerin unter. Die Familie wurde auseinander gerissen und kam wieder zusammen. Ein Feuerwehrmann und seine Frau bieten Henriettes Familie Unterschlupf. „Für mich sind das Helden!“
Das Versteck wurde verraten. „Es war eine schöne Sommernacht. Es war warm und die Sterne leuchteten. Wir wurden abermals verhaftet. … Mein Vater rief ‚Lauf!‘ und ich lief. Ich hörte Schüsse und meine Mutter schrie, ich lief weiter und wieder Schüsse. Ich wusste, nun hatte ich keine Eltern mehr, ich war allein.“ Auch der Feuerwehrmann und seine Frau wurden zur Strafe und Abschreckung getötet.
Ein Appell für Mitmenschlichkeit
Die Neunjährige fand wieder Hilfe, obwohl darauf die Todesstrafe stand. Henriette überlebte im Waisenhaus. Sie verdankt ihr Überleben vielen Zufällen – sie spricht von Wundern –, aber besonders der selbstlosen Hilfe anderer. Henriette Kretz glaubt an die Mitmenschlichkeit und sie appelliert daran. Nur dank der Mitmenschlichkeit kann sie ihre Geschichte heute erzählen.
Henriette Kretz will ihre Geschichte erzählen, weil sie stellvertretend für Millionen Kinder steht, denen die Kindheit und vielen das Leben genommen wurde. Sie will für die Ursachen sensibilisieren: „Fanatismus ist sehr anlockend.“ Und sie warnt: „Wir leben auf keiner Insel, man kann die Grenzen nicht dicht machen.“ Noch eine Stunde nach dem Vortrag sitzt sie mit Schülern zusammen und diskutiert.
Henriette Kretz hat ihre Geschichte aufgeschrieben: "Willst Du meine Mutter sein? Kindheit im Schatten der Schoah", ISBN: 978-3-939025-38-2. mehr