Finnland will schnell über einen Beitritt zur NATO entscheiden - und zieht wohl Schweden mit
“Russland ist ein anderer Nachbar als wir geglaubt haben.”
Der Überfall auf die Ukraine ist auch ein Angriff auf die europäische Friedensordnung. Die von Wladimir Putin befohlene Aggression gegen ein “Brudervolk” bricht Verträge, verletzt das Völkerrecht und zeugt von einer nicht für möglich gehalten Verwegenheit und Zerstörungswut im Kreml. Dieser Krieg wird die Welt verändern. Aber noch ist nicht einmal gewiss, wann und wie er enden kann. Langfristige politische und wirtschaftliche Folgen sind vorerst nur als abstrakte Tendenzen zu erkennen.
Vor diesem Hintergrund revidieren Finnland und Schweden, zwei nordische Mitgliedstaaten der EU, die bisher nicht der NATO angehören, ihre lange als unverrückbar geltenden Grundsätze in der Außen- und Sicherheitspolitik. In beiden Ländern war die Frage eines Beitritts zum westlichen Bündnis lange Zeit nicht nur nicht aktuell; sie widersprach geradezu ihrer politischen und historischen Identität.
Schweden hat zwei Jahrhunderte lang an seiner Politik der Neutralität festgehalten. In Finnland, das zwischen 1939 und 1944 zweimal Krieg mit der Sowjetunion führte und zweimal Frieden mit ihr schloss, setzte sich schließlich die Einsicht durch, dass die Sicherheit des Landes nicht gegen den mächtigen Nachbarn im Osten, sondern nur mit ihm, durch einen Interessenausgleich zu gewährleisten sei.
Dramatischer Umschwung der öffentlichen Meinung
Diese Gewissheit, dass die Bündnisfreiheit den nationalen Interessen am besten diene, ist durch den erbarmungslosen Angriff auf die Ukraine und die dort verübten Kriegsverbrechen nachhaltig erschüttert worden. Dabei eilt die öffentliche Meinung in beiden Ländern den politischen Entscheidungsprozessen voraus und treibt sie zugleich voran.
In Finnland sprachen sich im März in einer Erhebung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens 62 Prozent der Befragten für einen Beitritt des Landes zur Nato aus; 16 Prozent waren dagegen. Noch im Januar hatte eine Umfrage der größten Tageszeitung des Landes ergeben, dass eine NATO- Mitgliedschaft nur von 28 Prozent befürwortet und von 42 Prozent abgelehnt werde.
Ähnlich, aber weniger eindeutig ist das Meinungsbild in Schweden. Auch dort wird jetzt in Umfragen ein deutlicher Vorsprung für Anhänger der Allianz ermittelt. Im März stieg deren Anteil erstmals auf 49 Prozent. Wie in Finnland gab es allerdings zu Beginn des Jahres noch klare Mehrheiten gegen eine Mitgliedschaft.
Finnland und Schweden beim nächsten NATO-Gipfeltreffen?
Dieser dramatische Stimmungsumschwung fordert die politischen Entscheidungsträger heraus. Vieles deutet darauf hin, dass Finnland, und möglicherweise auch Schweden, am NATO-Gipfeltreffen Ende Juni in Madrid schon als Beitrittskandidaten teilnehmen könnten.
Die Regierung in Helsinki arbeitet mit Umsicht auf einen möglichst breiten politischen Konsens für einen Aufnahmeantrag hin. Diese Entscheidung zu treffen, sei jetzt eine Frage von Wochen, nicht Monaten, sagt die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Sanna Marin. “Russland ist ein anderer Nachbar als wir geglaubt haben.”
In Stockholm hat sich die von Magdalena Andersson geführte sozialdemokratische Minderheitsregierung nach längerem Lavieren auch dazu durchgerungen, so schnell wie möglich einen NATO-Beschluss herbeizuführen. Es geht auch darum, parteipolitischen Streit zu vermeiden. Im September finden Parlamentswahlen statt, und die NATO drohte ein Wahlkampfthema zu werden.
Die frühere Finanzministerin Andersson war im November Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei und Ministerpräsidentin geworden. In ihrer Regierungserklärung bekräftigte sie damals die traditionelle schwedische Linie: Die Bündnisfreiheit sei gut für das Land, habe es zweihundert Jahre aus allen Kriegen herausgehalten und trage zur sicherheitspolitischen Stabilität in Nordeuropa bei. “Schweden wird nicht um Mitgliedschaft in der NATO ansuchen”, verkündete Andersson.
Doch Oppositionsführer Ulf Kristersson, der Vorsitzende der konservativen Sammlungspartei, setzte die Sozialdemokraten unter Druck. Er kündigte an, eine von ihm geführte Regierung würde nach der Wahl unverzüglich die Aufnahme in das westliche Bündnis beantragen, falls es dafür im Reichstag eine Mehrheit gebe. Die meisten Parteien rechts der Mitte sind inzwischen für eine Mitgliedschaft.
Von den Sozialdemokraten war Führung verlangt. Sie stellen in der Regel die regierende Partei, auch wenn es in letzter Zeit nur zu eher schwachen Minderheitsregierungen gereicht hat. Der sich nun abzeichnende Kurswechsel ist der Ministerpräsidentin und Parteivorsitzenden offensichtlich nicht leicht gefallen. Zunächst schloss sie einen NATO-Beitritt zwar nicht grundsätzlich aus, versuchte aber, einen Beschluss mit dem Argument auf die lange Bank zu schieben, in der jetzt angespannten Lage könne ein Antrag auf Mitgliedschaft zusätzlich destabilisierend wirken. Viele sahen das als Versuch an, bei den Wahlen eine mögliche Spaltung der Partei zu vermeiden. Denn prominente Sozialdemokraten sind für die Abschaffung von Atomwaffen und vor allem deshalb gegen die NATO.
Neue Realitäten mit Kriegsbeginn
Schließlich ging Andersson aber doch in die Offensive. Jetzt heißt es, der Parteitagsbeschluss vom vergangenen Herbst, nicht der NATO beizutreten, entspreche seit dem Kriegsbeginn am 24. Februar nicht mehr den Realitäten. Auf drei landesweiten Konferenzen, zu denen alle an einem sicherheitspolitischen Dialog interessierten Mitglieder eingeladen werden, soll über das Für und Wider einer Mitgliedschaft und mögliche Alternativen diskutiert werden. Ende Mai will der Parteivorstand eine Entscheidung treffen. Die Regierung könnte dann bis zum Gipfeltreffen der NATO in Madrid eine parteiübergreifende Entscheidung vorbereiten.
Die finnische Außen- und Sicherheitspolitik sieht dagegen eine “NATO-Option” schon vor. Etwas umständlich formuliert heißt es, Finnland müsse “die Bewegungsfreiheit und die Wahlmöglichkeit” haben, sich militärisch zu verbünden und einen Antrag zur Aufnahme in die NATO zu stellen, “wenn wir das selbst beschließen”. So steht es auch im Programm der jetzigen Regierung, die von fünf Parteien gebildet wird, ein breites politisches Spektrum zwischen linken, grünen und bürgerlich-liberalen Positionen abdeckt und von fünf weiblichen Parteivorsitzenden geführt wird.
Als Staatspräsident Sauli Niinistö sich in seiner Neujahrsansprache auf diese NATO-Option bezog, wurde das im Ausland so gedeutet als befürworte er einen Beitritt zum Bündnis. Dabei hatte er nur hervorheben wollen, wie eine nachgeschobene Erklärung präzisierte, dass alle Staaten die gleiche Souveränität hätten, selbst über ihre Zugehörigkeit zu einem Bündnis entscheiden sollten und Interessensphären nicht mehr zeitgemäß seien. Das konnte als Unterstützung für die schon von russischen Truppen umzingelte Ukraine gedeutet werden, war aber auch eine Klarstellung in eigener Sache. Denn die damals sofort als unannehmbar abgelehnte Forderung Moskaus, die NATO müsse vertraglich auf jede künftige Erweiterung verzichten, sollte nach Darstellung des russischen Außenministeriums auch für Finnland und Schweden gelten.
Finnen suchen breiten Beitrittskonsens
Ministerpräsidentin Marin treibt nun seit Wochen einen raschen Beschluss über die NATO-Option voran. Ein möglichst breiter Konsens soll durch ausführliche Debatten im Parlament und die Befragung von Experten in den Ausschüssen erreicht werden. Zur Vorbereitung hat die Regierung einen Bericht über die sicherheitspolitische Lage vorgelegt. Darin heißt es, Russlands Krieg und der Umsturz der bestehenden Sicherheitsordnung sei eine langfristige Bedrohung Finnlands und Europas. Eine eindeutige Empfehlung vermeidend, weist der Bericht darauf hin, dass der abschreckende Effekt der finnischen Landesverteidigung durch militärische Fähigkeiten der NATO wesentlich verstärkt würde. Eine Mitgliedschaft Finnlands und Schwedens würde außerdem die Sicherheit im Ostseeraum erhöhen.
Ministerpräsidentin Marin deutet vorerst nur an, wo sie in dieser Frage steht, denn auch in ihrer Partei gibt es viele NATO-Skeptiker. Präsident Niinistö, der für die Außenpolitik zuständig ist, obwohl die traditionell starke Stellung des Staatsoberhauptes zugunsten einer Stärkung der parlamentarischen Demokratie abgeschwächt wurde, hat sich bisher nur orakelhaft zu einer NATO-Mitgliedschaft geäußert. Wie Marin will er der parlamentarischen Debatte offenbar freien Lauf lassen, ehe er und die Regierung Stellung beziehen. Es scheint aber schon jetzt klar zu sein, wohin das Verfahren zur Konsensbildung führt. Niinistö sagt, er rechne im Parlament mit einer “überwältigenden Mehrheit” für einen Antrag zur Aufnahme in die Nordatlantische Allianz.
Enge und schicksalhafte Verbindungen zum russischen Nachbarn
Ein solcher Beschluss wäre ein scharfer, historisch zu nennender Bruch mit der bisherigen Linie in der Außen-und Sicherheitspolitik. Finnland ist durch seine Geographie und Geschichte geradezu schicksalhaft mit dem mächtigen Nachbarn im Osten verbunden. Seit dem Mittelalter der östliche Teil des schwedischen Königreiches, kam es 1809, nach dem letzten Gefecht in einer langen Reihe schwedisch-russischer Kriege, unter die Herrschaft der Zaren. Schon damals ging es übrigens um die Sicherheit Sankt Petersburgs, das nur knapp zweihundert Kilometer hinter der heutigen, 1340 Kilometern langen gemeinsamen Grenze liegt.
Die in den Wirren der russischen Revolution gewonnene staatliche Unabhängigkeit stand 1939 wieder auf dem Spiel, als Stalin den Befehl zum Angriff gab und ein kommunistisches Marionettenregime einzusetzen versuchte. Im “Winterkrieg”, der nach wie vor das nationale Bewusstsein prägt, leisteten die finnischen Streitkräfte vier Monate lang tapfer Widerstand. Dann musste ein mit harten Gebietsabtretungen verbundener Frieden akzeptiert werden. Auf Revanche aus trat Finnland 1941 an der Seite Deutschlands in Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion ein. Gerade noch rechtzeitig konnte drei Jahre später ein Separatfrieden geschlossen werden, um eine Niederlage und die Besetzung des Landes abzuwenden.
Während des Kalten Krieges war die Souveränität Finnlands durch einen von Moskau aufgezwungenen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand eingeschränkt. In dieser schwierigen Lage entwarfen weitsichtige politische Führer eine Überlebensstrategie, die im Ausland manchmal abwertend als “Finnlandisierung” bezeichnet wurde. Diese Strategie ging von der Annahme aus, dass sicherheitspolitische Interessen Moskaus akzeptiert werden müssten, um Vertrauen zu schaffen. Unter dieser Voraussetzung könne dann in der Innenpolitik und in den Beziehungen zum Westen mehr Spielraum entstehen.
Tatsächlich ist es Finnland gelungen, sich Schritt für Schritt aus den politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Nachkriegszeit zu befreien und in jeder Hinsicht ein zum Westen gehörendes Land zu werden. Als Gastgeber der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki präsentierte es sich 1973-75 neben Österreich, Schweden und der Schweiz als neutrales, nicht paktgebundenes Land.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion profitierte Finnland, wie schon in den hundert Jahren als Großfürstentum, ökonomisch von der Nähe zu Russland und zu Sankt Petersburg, das mit seinem fünfeinhalb Millionen Einwohnern ähnlich viele Einwohner hat wie ganz Finnland. Doch das ist nun Vergangenheit und wird sich auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken.
Die NATO-Türen stehen offen
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat ein beschleunigtes Verfahren zugesagt, falls Finnland und Schweden einen Beitrittsantrag stellen wollten. Beide Länder haben in den letzten Jahren ihre bilaterale militärische Zusammenarbeit verstärkt und sich der NATO durch die Teilnahme ihrer Streitkräfte an Auslandseinsätzen und Manövern stark angenähert. Beide würden durch ihre militärischen Fähigkeiten und die Verfügbarkeit ihres Territoriums zur Stärkung der Allianz beitragen.
Finnland hat eine hoch motivierte Wehrpflichtarmee und kürzlich beschlossen, für die Luftwaffe 64 amerikanische Kampfflugzeuge des Typs F-35 anzuschaffen. In Schweden gibt es eine international konkurrenzfähige Rüstungsindustrie. Dass Putins langjähriger Vertrauter, der frühere Präsident Dmitri Medwedew, nun mit der Stationierung von Nuklearwaffen im Ostseeraum droht, ist nicht neu, zumindest was Exklave Kaliningrad betrifft.
Fachleute und Politiker sind stets der Meinung gewesen, dass es die beste Lösung wäre, wenn die beiden Nachbarn gemeinsam und gleichzeitig dem westlichen Bündnis beiträten. Wenn Finnland jetzt entschlossen voran geht, zieht es womöglich auch Schweden mit. Warten auf Stockholm will man in Helsinki aber nicht. Dennoch hilft die Entschlossenheit der Sozialdemokratin Sanna Marin vielleicht auch der Sozialdemokratin Magdalena Andersson, um Skeptikern und Zaudernden in deren Partei eine Brücke zu bauen.
Horst Bacia war Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und deren Korrespondent in Stockholm, Moskau, Ankara und Brüssel. Seither lebt er in Helsinki.