Also, auf geht's. Das Wichtigste zuerst - Stadtplan konsultieren. Das dauert eine Weile, weil ich erstens absolut keinen Orientierungssinn habe und zweitens Kartenlesen bei mir immer dauert. Mit der Métro wäre ich zwar eindeutig schneller, würde aber viel weniger sehen. Eine passende Busroute muss also gefunden werden. Ich mache das generell so, wenn ich irgendwo längere Zeit bin - Bus oder Bahnfahren. Denn da sieht man dann auch das "normale" Stadtbild und nicht immer nur die Vorzeigeobjekte, die aufgehübscht und angestrahlt Eindruck schinden.
Dienstleistungen der besonderen Art
Und so laufe ich dann die Rue des Commercants hinunter, vorbei an Damen in grellen, scheinbar aufreizend wirkenden Outfits, die Dienstleistungen der besonderen Art auch noch zu dieser Stunde feilbieten. Es dauert eine Weile, bis ich realisiere, was da gerade in unmittelbarer Nähe meiner Wohnung passiert und es stimmt mich sehr nachdenklich.
Während ich mich noch frage, welche Gründe diese Frauen wohl für ihre Arbeit haben mögen, tragen mich meine Füße zur Bushaltestelle Nicolas. Dort fährt die Linie 88 nach Heysel. Und genau dort im Nordwesten befindet sich wohl das berühmteste Wahrzeichen Belgiens. Belgiens. Nicht Brüssel.
Marietta aus Ostflandern
An der Haltestelle mache ich Bekanntschaft mit Marietta, einer Dame von ca. 80 Jahren. Sie ist sehr offen und gesprächig. Und während wir beide im Fieselniesel warten, erfahre ich so Einiges über sie. Marietta stammt aus Ostflandern, war schon einmal am Nordpol und in China. Überhaupt hängt ihr Herz am Reisen. Und Marietta erzählt darüber wie sie nach Brüssel kam und wie sie die heutige Zeit sieht und das Verhältnis zwischen Flamen und Wallonen erlebt. Es sei richtig und wichtig, dass man die eigene Identität behält, egal wohin man geht oder von woher man stammt. Das Schlimmste, das man sich selbst antun könne, sei, die eigene Identität, die eigene Herkunft zu verstrecken.
Und Marietta fragt, woher ich komme, denn ich spreche so gut Deutsch... J Aus Dresden, sage ich. Dresden - und Marietta gerät ins Schwärmen. Einmal sei sie schon da gewesen, zur Wiedereröffnung der Frauenkirche. Und ihre hellblauen, wachen Augen blitzen auf als sie von der Stadt erzählt, die für sie "sehr schön, fast die schönste Stadt" ist. Den Namen der schönsten Stadt wollte Marietta nicht verraten. Ich habe den Eindruck, dass Marietta wohl schon sehr viele Städte gesehen hat - Reisen sei für sie das Beste überhaupt - und so dürfte die Entscheidung sicherlich sehr schwer fallen.
Verrückt nach der Welt
Zu meinem Bedauern darf ich kein Erinnerungsfoto von uns beiden machen, wie wir hier so im miesen Fieselniesel warten. Diesem Wunsch entspreche ich natürlich und so präge ich mir ganz viele Details ein, damit ich Marietta so schnell nicht vergesse. Links an ihrer rotbraunen Jacke pinnt ein großer, runder Anstecker. In weißen Buchstaben auf rosa Untergrund bilden Buchstaben die Worte "Respect For All" - Respekt für alle.
Wenn ich irgendwann einmal das Sinnbild einer Europäerin beschreiben müsste, dann würde ich Marietta beschreiben: verrückt nach der Welt, wissensdurstig, neugierig auf andere Länder, aus Flandern stammend, die belgische Staatbürgerschaft innehabend und einen europäischen Pass besitzend; und so unglaublich stolz darauf, dass es nahezu ansteckt. Alles Gute Marietta, für deine Reise an den Südpol diesen Sommer und komme gesund zurück!
Bedeutung für das Königreich
Marietta steigt irgendwann aus dem Bus aus, ich bleibe sitzen und fahre weiter. Meine Kamera filmt fleißig, wie der Bus durch die Straßen fegt. Der Norden von Brüssel gefällt mir - passend zum Wetter decken sich Industrieanlagen grau in grau abseits der Alleen und Boulevards. Heute ist mir irgendwie nicht nach Hibbeligkeit... es muss am Wetter liegen.
Irgendwann lugt die Spitze des Atomiums zwischen Häusern und Bäumen hervor. Ich steige aus und stehe auf dem Expo-Gelände, zielstrebig geht's in Richtung Wahrzeichen. Im Jahr 1955 fand mittlerweile zum vierten Mal in Belgien die so genannte Weltausstellung statt. Über 40 Länder präsentierten sich in verschiedenen Pavillons, stellten Neuerungen aus den Bereichen Wissenschaft und Technik, Handel und Wirtschaft einem breiten Publikum vor. Hauptattraktion: das Atomium.
Hätten Sie gewusst,
... dass es beinahe gar kein Atomium gegeben hätte? Der Alternativvorschlag sah einen über 450 Meter hohen Turm vor, der jedoch nie gebaut wurde. Im Atomium selbst können allerhand Ausstellungsstücke von der Expo 1958 angesehen und bestaunt werden. Verschiedene Medien vermitteln Wissenswertes zum geschichtlichen Hintergrund des Bauwerks und seiner Bedeutung für das Königreich Belgien. Besonders fetzig ist die Rolltreppe, die zu Ebene 2 führt. Ein bisschen fühlt es sich an, als befände man sich in einem Raumschiff...
Unweit vom Atomium befindet sich übrigens das Koning Boudewijnstadion. Früher hieß es einmal Heysel-Stadium. Im Jahr 1985 erlangte es traurige Berühmtheit, als während des Europa-Pokal-Endspiels zwischen Juventus und Liverpool nach Ausschreitungen zwischen den Fangruppen 39 Menschen tödlich verunglückten und etwa 440 Menschen verletzt wurden. Das Stadion wurde umgebaut und 1995 mit einem Freundschaftsspiel zwischen Belgien und Deutschland eingeweiht.
* "Europa erfahren. Eine Reise zur Schaltzentrale der EU" Bildungsreise der SLpB nach Brüssel vom 6. bis 9. Juli 2014.