„Ich spreche hier als bulgarischer Abgeordneter: Das ist für mich sehr spannend!“
„Sachsen profitiert stark von der Europäischen Union mit ihren offenen Grenzen und hat – als Nachbar Tschechiens und Polens – ein großes Potential für ein gelebtes Europa. Trotzdem blicken viele mit einer gewissen Skepsis nach Brüssel: Die EU sei weit weg und mit ihren undurchschaubaren Institutionen viel zu kompliziert“, sagte Ivo Vacík, Referent für Europa und Internationales der Landeszentrale (SLpB), in seinem Grußwort zum Auftakt der Veranstaltung. Er bestärkte die Jugendlichen, offen und interessiert an das Thema heranzugehen: „Denn Europa ist nicht weit weg! Es ist hier, es sind wir alle, es ist unser Alltag. Europa beeinflusst tagtäglich unser Leben – und wie eine der EU-Institutionen funktioniert, das lernen Sie heute kennen.“
„Klimaschutz ist TÜV des 21. Jahrhunderts“
In einem erste Panel diskutierten zunächst vier Berufspolitiker:innen über klimapolitische Maßnahmen. „Klimaschutz ist der TÜV des 21. Jahrhunderts“, sagte Cornelia Ernst, Abgeordnete der Partei Die Linke und Teil der Fraktion GUE/NGL (Vereinte Europäische Linken/Nordische Grüne Linke) im Europäischen Parlament. Neben ihr auf dem Podium saßen Matthias Ecke von der SPD und Fraktionsmitglied der europäischen S+D (Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten) sowie Anna Cavazzini (Grüne/ Europäische Freie Allianz) und der sächsische Landtagsabgeordnete Robert Clemen (CDU).
Schnell wird klar: Ohne Klimaschutz geht eigentlich nichts mehr. Alle vier Abgeordneten erkennen an, dass es angesichts des Klimawandels effektive Schutzmaßnahmen braucht. Die Vorstellungen, wie der beste Weg konkret aussieht, gehen allerdings deutlich auseinander. Diskutiert wurden in kurzer Zeit so unterschiedliche Themen wie das Angebot eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs, Atom- und Windenergie sowie der fehlende internationale Status von Geflüchteten, die wegen der Klimakrise ihre Heimat verlassen müssen.
Start der Simulation: mit fünf der sieben europäischen Fraktionen
Nach dem Input der Politiker:innen ging es für die Schüler:innen dann in die erste Fraktionssitzung. In der Simulation waren fünf der sieben im Europäischen Parlament vertretenen Fraktionen dabei: Die Europäische Volkspartei (EVP), mit Mitgliedern der deutschen CDU, die sozialdemokratische Allianz S+D, die Grünen/EFA, die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) – eine rechtskonservative und EU-kritische, in Teilen rechtspopulistische Fraktion der unter anderen die polnische PiS-Partei und die italienische Fratelli d’Italia, allerdings nicht die AfD angehören – und schließlich die Fraktion Renew Europe der liberalen und zentristischen Parteien (zu der auch die FDP zählt).
„Ich finde es sehr lehrreich zu sehen, wie unterschiedlich die Meinungen der Länder innerhalb derselben Fraktion sind“, sagt Chayenne-Chanice Schön, „und trotzdem einigt man sich dann auf einen gemeinsamen Standpunkt für die Abstimmung“. Die 16-Jährige übernimmt die Rolle einer Abgeordneten der liberalen Fraktion Renew Europe. Im echten Leben engagiert sie sich im Schülerrat. Tamino Weigel, 17, der den Tag über den Abgeordneten der konservativen EVP gibt, meint: „Ich mag es sehr gerne, mich in andere Rollen reinzuversetzen. Ich spreche ja hier als Abgeordneter aus Bulgarien und das ist für mich sehr spannend“. Für manch andere bietet das Rollenspiel die Herausforderung, gegen die eigenen Ideale arbeiten zu müssen. „Anfangs ist es komplex reinzukommen, vor allem, wenn man in einer Fraktion ist, zu der man sich persönlich nicht zugehörig fühlt“, sagte Zoé Liebscher. Die Schülerin engagiert sich in ihrer Freizeit politisch und geht regelmäßig auf Demos.
Ringen um Worte: Ist das Politik?
In ihren jeweiligen Fraktionen diskutieren die drei über verschiedene Anträge. Diese bereiten sie für die späteren Ausschusssitzungen und die abschließende Plenardebatte vor und beraten in aller Kleinschrittigkeit über die Texte: Soll ein „besonders“ ergänzt werden oder nicht? Was ist gemeint mit „umfassender Bewusstseinswandel“ und welche politischen Möglichkeiten ergeben sich daraus? Politik hautnah zu erleben, bedeutet auch ein Ringen um die richtigen Worte.
Nach der Mittagspause finden sich die jungen Abgeordneten der verschiedenen Fraktionen in Ausschüssen zusammen. Diese orientierten sich auch an drei tatsächlichen Ausschüssen im Europäischen Parlament: dem Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung (AGRI), dem Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) und dem Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI). Hier werden Änderungen der Fraktionen an Antrags-Texten vorgebracht, diskutiert – und letztlich werden auch Zugeständnisse gemacht. Auf diese Weise erfahren die Schülerinnen und Schüler auf spielerische Weise, was Politik ausmacht.
„Natürlich hat man jetzt ein viel konkreteres Bild vor Augen und es ist gut, das hier so physisch und praktisch zu erleben“, so René Löffler. Er ist 19 Jahre alt, macht gerade eine Ausbildung zum Sozialassistenten und ist über seine Berufsschule zur Parlamentssimulation nach Leipzig gekommen. Ihm sei hier aber auch klargeworden, wie voraussetzungsvoll und herausfordernd die Simulation teilweise ist. Gerade für jüngere Schüler und Schülerinnen, und diejenigen, die mit dem Politik-Fachjargon wenig vertraut seien. René Löffler: „Es wäre besser, wenn man alles etwas simplifiziert, sprachlich, auch für mehr Transparenz“. Ihm selbst falle es leicht, sagt er, da er sich auch privat mit Politik auseinandersetze.
Am Nachmittag bereiten sich die Fraktionen auf die große, abschließende Plenardebatte vor. Wie im echten EU-Parlament findet dort nun die Abstimmung über die zuvor diskutierten Anträge statt. In diesem Rahmen werden auch einzelne Abgeordnete zu den anderen Fraktionen entsandt, um gemeinsames Abstimmverhalten zu besprechen und Mehrheiten zu bilden.
Staatsministerin Katja Meier: „Erprobung der Demokratie“
Gegen 16:30 Uhr finden sich schließlich alle im Plenarsaal zusammen. Zunächst wird ein digitales Grußwort der sächsischen Europa-Ministerin Katja Meier (Sächsisches Staatsministerium der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung) eingespielt. Die Ministerin betont, dass die Jugendlichen hier zu mehr als einer reinen Simulation zusammenkämen. Dieser Tag sei „mindestens ein Trial-Run, eine Erprobung der Demokratie“. In der anschließenden Plenardebatte debattieren die Teilnehmer:innen über die letzten Änderungen der klimapolitischen Anträge und stimmen per Handzeichen ab.
Den konservativen, rechtskonservativ-populistischen und liberalen Parteien (EVP, EKR und Renew) gelingt es, mit ihrer parlamentarischen Mehrheit einige Anträge durchzubringen. Die sozialdemokratische S+D zeigt sich zum Teil überrascht über das teilweise recht unentschlossene Abstimmungsverhalten der Grünen und argumentierte selbst rigoros für Klimaschutz. Ein kostenloser Nahverkehr sei „essenziell für die Klimaziele“ und es sei nun „Schluss mit Verbrennermotoren und Schluss mit Umweltsünden“.
Sozialdemokratische Fraktion: Enttäuschung über die Grünen
Alle Debattenbeiträge wurden realitätsgetreu am Rednerpult mit Blick auf die anderen Abgeordneten gehalten. Einige der Jugendlichen verleibten sich dabei den politischen Duktus bereits vollends ein und begannen ihre Redebeiträge mit „Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen“ oder „Sehr geehrte Abgeordnete“. Tamino Weigel sorgte für den Applaus seiner eigenen Fraktion, als er recht detailgetreu konservative Rhetorik spiegelte und Klimaschutz „mit Augenmaß aber nicht mit Ideologie“ forderte.
Die Simulation des Europa-Parlaments vermittelte den Schülerinnen und Schülern ein realistisches Bild vom politischen Betrieb – auch von den alltäglichen Mühen und Erfolgen. Einige von ihnen sehen die Politik auch als mögliches Berufsfeld. So wie Zoé Liebscher: „Ich könnte mir vorstellen, in der Politik aktiv tätig zu werden. Denn ich habe selbst einige Themen, die ich gerne verändern wollen würde“. Ihr gehe es um Kritik am Kapitalismus im Allgemeinen und um Bildungs- und Gesundheitspolitik im Speziellen. Tamino Weigel freute sich über die Möglichkeit, zu diskutieren und dabei mit und vor anderen zu sprechen: „Ich geh‘ voll auf“. Eine Karriere in der Politik sei bei ihm aktuell aber eher Plan C.
An der Simulation teilnehmen konnten Schülerinnen und Schüler der 9.-12. Klassen aller weiterführenden Schulen und Berufsschulen in Sachsen. Die Simulation Europäisches Parlament wurde 1999 von der Jungen Europäischen Bewegung (JEB) ins Leben gerufen und wird seitdem mit coronabedingter Pause jedes Jahr organisiert. Seit 2016 auch in Sachsen.