An die erste Begegnung erinnere ich mich sehr gut, obwohl sie acht Jahre zurück liegt. Ich war nach Konstanz gefahren, um Professor Lind kennen zu lernen. Von ihm gelesen hatte ich schon viel. Er kam persönlich, der berühmte Psychologe, der große Pädagoge, der liebenswürdige Provokateur und intelligente Umstürzler so vieler, unumstößlich scheinender schulpädagogischer Dogmen. Er kam, das muss ich sagen, ein wenig unpünktlich. Er kam angeradelt auf einem in die Jahre gekommenen Drahtesel. Er hatte äußerlich nichts, aber auch wirklich gar nichts Professorales an sich. Innerlich schon.
Mir gegenüber saß ein Mann mit einem riesigen Körper und einem überragenden Geist. Er konnte trotz seines Alters lachen wie ein Kind. In seinem Gesicht saß der Schalk. In seinem Händedruck lag viel Herzenswärme. Aus seinen Augen strahlte Fröhlichkeit. Ich erinnerte mich an eine Selbstverständlichkeit, die immer wieder in Vergessenheit gerät. An die Selbstverständlichkeit, dass sich die Überzeugungen eines Menschen, sollen sie glaubwürdig sein, im seinem Verhalten wieder finden müssen.
Seit dieser Begegnung sind Jahre vergangen. Inzwischen gelang es, Georg Lind nach Dresden zu holen. Seit 2013 leitet er im Auftrag der Landeszentrale für politische Bildung das Projekt „KMDD in Sachsen“ (KiS). KMDD – die Abkürzung steht für die Konstanzer Methode der Dilemmadiskussion. Diese Methode ist sein „Kind“. Er hat sie ausgehend von der Theorie des amerikanischen Psychologen und Erziehungswissenschaftlers Lawrence Kohlberg, entwickelt, erprobt, ausgewertet und patentiert. Wer sich kurz und knapp informieren will, greife am besten zu seinem Standardwerk. Es heißt: „Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung“. Georg Lind behauptet, dass wir in unserer persönlichen Ethik immer dann besonders schnell und nachhaltig vorankommen, wenn wir uns in einem moralischen Dilemma befinden, d. h., wenn wir gezwungen sind, uns einer schwierigen Entscheidung zu stellen.
Demokratie macht man nur mit Demokraten
Er behauptet, dass sich Bildung und Erziehung nicht auf das Repetieren von angelerntem Wissen über unser Staatsgefüge, über die Funktion demokratisch legitimierter Institutionen, über Gesetze und Verfahren beschränken darf. Er fordert, den Zusammenhang zwischen der moralischen Urteilsfähigkeit der Bürger einerseits und der Akzeptanz und Tragfähigkeit demokratisch zustande gekommener Entscheidungen andererseits ernst zu nehmen. Demokratie macht man nur mit Demokraten. Die Demokratie setzt voraus, dass diejenigen, die sie tragen sollen, sie auch tragen wollen. Das heißt auch, dass sie über eine gut ausgeprägte moralische Urteilskraft verfügen müssen.
Was bedeutet diese Erkenntnis für die Schule? Moral darf nicht als Additum oder als Appendix des Curriculums verstanden werden. Jedes Schulfach ist ethisch. In jeder Unterrichtsstunde können moralische Fragen entstehen. Das wirkliche Leben, in dem wir Rechenschaft ablegen über die Gründe unseres Tun und Lassens, beginnt nicht nach der Schule. Die Schule ist das wirkliche Leben für Schüler, Eltern und Lehrer. Über Moral zu theoretisieren, genügt nicht. Sie ist wie ein Muskel, der ausgebildet und trainiert werden muss. Wer übt, die Gedanken und Gefühle anderer Menschen wahrzunehmen, wer in der Lage ist, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen, wer gelernt hat, mit den eigenen Gefühlen, gerade auch mit den negativen und diffusen, konstruktiv umzugehen, der wird alles in allem weniger aggressiv, weniger destruktiv, weniger gewalttätig und weniger diktatorisch handeln. Wer die tägliche Erfahrung macht, um seiner selbst willen wertgeschätzt zu werden, kann auch das Gute im anderen sehen. Georg Lind hält daran fest, dass jeder Mensch das Gute will. Er ist sich darin einig mit Sokrates, Jesus, Immanuel Kant u. v. a. m. Es gibt keinen Menschen, der per se das Böse will. Es ist nicht nötig, Menschen zu motivieren, das Gute anzustreben. Das tun sie von ganz alleine. In dieser Hinsicht reicht es aus, die Strukturen und Arbeitsabläufe so zu organisieren, dass sie keinen demotivieren.
Wer Autorität von innen ausstrahlt, hat autoritäres Verhalten nicht nötig
Was Not tut, ist, die Suche nach dem richtigen Weg zum Guten gemeinsam so zu organisieren, dass alle mitgenommen werden. Genau dies meint Demokratie, oder? Die Art, wie wir Bildung und Erziehung betreiben, muss dem Ziel entsprechen, das wir durch Bildung und Erziehung erreichen wollen. Wie soll autoritäres Verhalten demokratische Haltungen erzeugen? Dass es einen wesentlichen Unterschied gibt zwischen autoritärem und autoritativem Verhalten, sei erwähnt, weil dieser Unterschied oft verkannt wird. Eine Schule der Demokratie muss selbst demokratisch sein. Das heißt nicht, dass sie beliebig ist. Das heißt nicht, dass ihre Lehrer keine Autorität besitzen. Im Gegenteil. Wer Autorität besitzt, weil er sie erworben hat, wer Autorität von innen ausstrahlt und nicht äußerlich anlegt, als sei sie eine Uniform, hat autoritäres Verhalten nicht nötig.
Aber zurück zu Georg Lind und seiner Methode. Sie funktioniert so, dass eine Gruppe (Schulklasse, Ausbildungskurs oder Kollektiv) ein vom Trainer auf sie zugeschnittenes, semireales Dilemma diskutiert. Semireal sollte es sein, weil zu nah an der Lebenswelt der Beteiligten angesiedelte Dilemmata zu starke Emotionen auslösen und diese die Diskussion belasten können. Zu weit weg vom Leben der Beteiligten sollte das fiktive Dilemma allerdings auch nicht liegen. Es soll helfen, eine qualifizierte, ernsthafte und nach strengen Regeln ablaufende Diskussion auszulösen. Wenn sicher ist, dass die Beteiligten das moralische Dilemma verstanden haben, werden alternative Handlungsmöglichkeiten diskutiert. Wie wichtig die Zeit ist, wie lange man braucht, um alle Pro- und Contraargumente ernsthaft abzuwägen, konnte ich selbst schon oft erleben. Ich gebe zu, zu jenen Zeitgenossen zu gehören, die schnell über die Argumente und Motive anderer hinweggehen, denen das Zuhören schwer fällt. Der Trainer leitet die Diskussion, indem er auf die Einhaltung der Regeln achtet. In die Argumentation selbst greift er nicht ein. Er gibt keine Zensuren. Weder am Anfang noch am Ende steht ein Richtig oder Falsch.
Eine Welt voller Konflikte
Was bleibt, ist die Erfahrung der Teilnehmer, sich intensiv mit einem moralischen Dilemma beschäftigt zu haben, dieses tiefer verstanden, beantwortet und dabei auch konträre Positionen schätzen gelernt zu haben. Das Premium-Argument der Gegenseite zu benennen, bereitet einen besonderen intellektuellen Genuss. Die Teilnehmer lernen, einander zu respektieren. Sie verstehen, dass Menschen unterschiedlich entscheiden, obwohl sie alle das Gute wollen. Sie entwickeln moralisch-demokratische Kompetenz. Dass diese zu den Elementen unserer Allgemeinbildung unverzichtbar dazugehört, dürfte unstrittig sein. Wir brauchen sie in einer Welt, die voller Konflikte steckt, dringender denn je.
Das Projekt KiS hat eine Laufzeit von Januar 2013 bis Dezember 2014.
Der Beitrag erschien am 15. August 2014 in der Sächsischen Zeitung.