Geht man als Journalist den Spuren des AfD-Erfolges bei der Bundestagswahl im September des Vorjahres nach, fährt man in ländliche oder gebirgige Regionen. Hier und in den Plattenbau-Randvierteln der Großstädte hat die Alternative mit teils mehr als 40 Prozent ihre Aufsehen erregendsten Ergebnisse erzielt. Seither hat namentlich die regierende CDU das Stadt-Land-Gefälle als ein Großthema wiederentdeckt. Die Leuchtturmpolitik der Biedenkopf-Ära, von seinem Nachfolger Georg Milbradt fortgesetzt, hinterlässt ein zwiespältiges Erbe. Kontrovers aufgenommen wurde die so genannte Schwarmstudie, die 2016 von der Sächsischen Aufbaubank und von der Immobilienbranche veröffentlicht wurde und die die regionale Spaltung Sachsens belegt. Urbanisierungs- und Konzentrationsprozesse sind freilich auf der ganzen Welt zu beobachten. Sie überfordern die Großstädte und entleeren die weiten Räume.
Auch wenn sich die Bewohner jenseits der Städte in Sachsen gar nicht immer so abgehängt fühlen, wie oft kolportiert wird, wachsen strukturelle Probleme allein schon durch die Abwanderung vor allem junger Menschen. Die Sächsische Landeszentrale für Politische Bildung greift in diesem Jahr diese demografischen Veränderungen und ihre Folgen auf. Den Auftakt unter dem Motto „Stadt-Land-Mensch. Regionalität und Identität“ bildete das Donnerstagsgespräch am 8.Februar in den eigenen Räumen. Direktor Roland Löffler kam zur Begrüßung noch einmal auf sein Geleitwort zum Newsletter für das erste Quartal 2018 zurück. Schlaforte stehen boomenden Clustern gegenüber. Die Landwirtschaft erbringt nur noch 0,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Wo bleibt dann das Heimatgefühl, die legitime Romantik auch unserer Tage?
Strukturwandel ist unausweichlich
Für den Einführungsvortrag konnte der renommierte Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz gewonnen werden, der das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung leitet. Die Sachsen betreffende Wanderungsbewegungen, die er referierte, rufen sehr unterschiedliche Empfindungen hervor. 700 000 Bewohner hat das bei seiner Wiedergründung 1990 etwa fünf Millionen Einwohner zählende Sachsen seither verloren. Die meisten sind als „Wirtschaftsflüchtlinge“ abgewandert, der drastische Geburtenrückgang auf nur noch 0,7 Kinder pro Frau tat ein Übriges. Klingholz sprach von einer „halbierten Generation“. Die gute Nachricht: Seit 2013 ist der Abwanderungstrend Richtung Westen gestoppt, kehrt sich teilweise sogar um. Verstärkt hat sich hingegen die Binnenwanderung, vor allem in die „aufgehübschten“ Großstädte. Auch kleinere Städte gewinnen langsam wieder.
Aufschlussreich waren die nicht durchweg pessimistisch stimmenden Differenzierungen, die der Demografieexperte bot. Fünf Wanderungsmotive fächerte er auf. Die „Bildungswanderer“ kennen wir eigentlich seit Jahrhunderten. Man denkt zuerst an Studenten in den Hochschul- und Universitätsstädten. Sie haben oft nur die Funktion von „Durchlauferhitzern“, wie Klingholz sagte. Denn auch in großen Universitätsstädten, in denen sie gern nach dem Studium bleiben würden, findet sich nur eine begrenzte Zahl von Arbeitsplätzen. Das gilt besonders für kleine Hochschulstandorte wie Mittweida, die die meisten Absolventen wieder verlassen.
Dem Lebensalter folgend, geht es dann um die Berufswanderer. Hier dämpfte der Forscher etwas den Nimbus, den Dresden als Wirtschaftsstandort vor sich herträgt. Die Familienwanderer, die nach der Familiengründung ein lebenswertes privates Umfeld suchen, schwächen den Trend hinein in die Großstädte. Sie tragen eher zur Suburbanisierung bei, suchen das Umland. Dresden verliert hier sogar Einwohner, Leipzig nicht. Sind die Kinder „aus dem Gröbsten heraus“, werden für die Eltern in der zweiten Lebenshälfte die Kleinstädte wieder interessanter. Hier finden sie auch ein kulturelles Angebot, kurze Wege und eine intakte Infrastruktur. Ähnliches gilt auch für die Ruheständler. „Eine Chance für die Mittelstädte“, meint Klingholz, auch wenn diese zu Lasten des Umlandes gehe. In der Diskussion später wurden allerdings Warnungen vor „Seniorenstädten“ laut, womit Görlitz bereits geworben hat. Ein solch hoher Anteil älterer Menschen bringe Probleme bei der Pflege und sozialen Betreuung.
Die Summe des Impulsvortrages ernüchterte aber doch. Von den kleinsten Orten gehen alle Altersgruppen weg. Und: „Auch mit viel Geld kann man sich nicht gegen den Strukturwandel stemmen“, konstatierte Reiner Klingholz.
Luxus- und Landprobleme
Mit ihm und mit dem Publikum diskutierten dann Mischa Woitschek, Geschäftsführer des Sächsischen Städte- und Gemeindetages, und der Leiter des Dresdner Stadtplanungsamtes Stefan Szuggat. Erwartungsgemäß schilderte der Stadtplaner zunächst die Probleme einer wachsenden und prosperierenden Stadt. Kinderbetreuung, Schulen, Wohnungsbedarf liegen auf der Hand. Aufhorchen ließ, was Mischa Woitschek dabei zu bedenken gab. Der Peak, also der Gipfelpunkt des Anpassungsbedarfs in Dresden sei möglicherweise erreicht. Angesichts unsicherer Prognosen und des schwankenden Zuzugs solle man „nur noch bauen, was wieder rückgebaut werden kann“. Nicht alles würde auf Dauer gebraucht.
Luxusprobleme, verglichen mit dem „flachen Land“. Referent Reiner Klingholz geriet wegen seiner Beteiligung an Studien noch einmal unter Beschuss, die sozusagen eine „Palliativbehandlung“ sterbender Orte empfahlen. Aber er verwies auch auf unbestreitbare und kaum lösbare Probleme. Wie soll man verwahrloste Altimmobilien aus ihrem Besitz lösen, damit es nach dem Stadtumbau nun einen „Dorfumbau“ geben kann? Man könne sie doch zum Ausbau an Interessenten verschenken, meinte Anne Pallas vom Landesverband Soziokultur. Die Dörfer seien auf einem Stand der 1970-er Jahres stehen geblieben, behauptete Klingholz. Wobei ein Vertreter des Umweltministeriums an intakte, noch nicht zersiedelte und attraktive Dorfstrukturen damals in der DDR erinnerte. Klingholz wies andererseits auf das Problem älterer Menschen hin, die „Gefangene im Eigenheim“ seien. Ihr Häuschen sei nicht verkaufbar, mithin keine Alterssicherung, und ihnen müsse man bei einem Umzug in die Kleinstadt helfen.
Kritik am Prinzip der zentralen Orte
Da war wieder das Problem von Zentrum und Peripherie angesprochen. Im Diskussionsverlauf verdichtete sich die Kritik am System der Zentralen Orte mit „Bedeutungsüberschuss“, das auf eine Schrift des deutschen Geographen Walter Christaller aus dem Jahr 1933 zurückgeht. Der Städte- und Gemeindetagsgschäftsführer warf die Frage auf, inwieweit Mittelstädte überhaupt zentrale Aufgaben erfüllen. Große Unterschiede gibt es da, Bautzen 65 Prozent, Radebeul nur fünf Prozent. Was sollte an Verwaltung in einem Unterzentrum konzentriert werden und welche Funktionen müssten unbedingt bürgernah vor Ort erhalten bleiben? Krasse Beispiele tauchten auf. Absurde Vorschriften verhinderten, dass eine Zahnärztin mit einer mobilen Praxis übers Land fuhr. Reiner Klingholz berichtete von einer Gemeinschaftspraxis im Harz, die entgegen solchen Vorschriften in einem ehemaligen Supermarkt errichtet wurde. Der Forscher rief zu einer „organisierten, geplanten Anarchie“ auf. Unterstützt wurde er vom Bürgermeister Jörg Jeromin der Gemeinde Strehla bei Riesa. Die Kinder der erfreulich geburtenstarken Kleinstadt müssten die weiten Wege nach Riesa auf sich nehmen, weil eine Betreuung und Beschulung vor Ort nicht genehmigt werde.
Nicht anders sieht es bei der Fördermittelvergabe aus. Mit ihnen lässt sich beispielsweise das Risiko der Zersiedlung des suburbanen Umfeldes steuern. Auch über Werbung wurde gesprochen, über den propagierten städtischen Lebensstil. Ausgerechnet der Dresdner Stadtplaner Szuggat stellte die Frage, warum nicht ähnlich intensiv für die Vorzüge des stilleren Landlebens geworben werde.
Es gibt also Reserven jenseits der Zentren, wenn mehr Vielfalt ermöglicht wird und unflexible Vorschriften beseitigt werden. Eine Gleichheit der Lebensbedingungen zu fordern wäre illusorisch, aber Gleichwertigkeit lautet der verbindende Begriff. Geschäftsführer Woitschek tröstete, dass die Bevölkerungsprognosen immer ungünstiger gewesen seien als die Wirklichkeit. An den Ursachen von Landflucht und Urbanisierung werden auch die diskutierten Milderungen der Folgen nichts ändern. Eine solche Diskussion hätte den Rahmen gesprengt. Eine Wettbewerbs- und Anspruchsgesellschaft funktioniert nun einmal nach dem biblischen Prinzip, dass dem, der hat, auch noch gegeben wird.
Michael Bartsch ist Freier Journalist und Autor. Er arbeitet u.a. für TAZ, Junge Welt und MDR.