Im europäischen Vergleich gilt Deutschland nicht gerade als Vorreiter in Sachen Digitalisierung. Was hat sich da durch die Corona-Pandemie verändert? Hat unsere Gesellschaft im Hinblick auf digitale Formate – insbesondere auch digitale Bildungsformate – einen großen Schritt nach vorn gemacht?
Annette Rehfeld-Staudt: Hier gibt es mehrere Aspekte. Was die digitale Ausstattung und die Infrastruktur betrifft, liegt Deutschland im Vergleich zu anderen Länder tatsächlich sehr zurück – dieses Defizit haben wir in der Situation der Pandemie deutlich gespürt. Zwar haben einige netzpolitische Akteure und Experten schon vor Jahren gesagt: „Deutschland ist viel zu rückständig in Sachen Digitalisierung“. Wirklich ernst genommen wurde das aber nicht.
Erst jetzt während der Corona-Pandemie rückte das Thema in den Fokus. Denn uns wurde täglich vor Augen geführt, wo es an technischem Equipment mangelt – etwa an Schulen oder in Familien – oder dass viele Haushalte kein funktionierendes WLAN haben. Dadurch ist ein viel breiteres Bewusstsein für die Bedeutung der Digitalisierung entstanden. Und das hat einen Schub ausgelöst: Jetzt tut sich endlich was.
Gleichzeitig ist deutlich geworden, dass Digitalisierung nicht nur an Ausstattung und Technik hängt, sondern auch an Wissen, Können und der Umsetzung. Ich glaube, das hat sich vor allem in den Schulen gezeigt: Allein durch die Anschaffung von Geräten auf neuestem Stand der Technik ist man ja nicht automatisch in der Digitalisierung angekommen. Sondern erst dann, wenn Lehrer mit diesen neuen Medien umgehen können und sie tatsächlich in ihren Unterricht mit einbeziehen. An diesem Punkt gibt es noch ganz viel zu lernen.
Fabian Soding: Dem pflichte ich komplett bei. Der größte Schritt, den wir durch Corona gemacht haben, liegt in der Schärfung unseres Bewusstseins. Es ist gesamtgesellschaftlich angekommen, dass etwas geschehen muss. Sowohl was die Ausstattung als auch was Verfahren, Prozesse und Organisation betrifft. Auch in Bezug auf die Gesetzeslage muss etwas passieren, da in einigen deutschen Gesetzen der Bereich Digitalisierung noch gar nicht mitbedacht ist.
Ich bin gespannt, was die nächste Bundesregierung dazu auf den Weg bringt. Im Sondierungspapier der möglichen Ampelkoalition im Bund geht es um die Stärkung der Bürgerrechte und eine neue Digitalstrategie. Dies beinhaltet eine KI-Strategie, eine digitalere Verwaltung, den Gigabit-Ausbau und mehr Investitionen in Digitalisierung. Ob es außerdem ein neues Digitalministerium zu besseren Koordination der Herausforderungen geben wird, ist derzeit noch offen.
Worin genau besteht der von Ihnen erwähnte Schub, den Corona in Sachen Digitalisierung mit sich gebracht hat? Können Sie kurz ein paar Beispiele nennen?
Annette Rehfeld-Staudt: Viele Schulen verwenden inzwischen digitale Plattformen wie beispielsweise Moodle, in den Büros werden selbstverständlich Besprechungen per Videokonferenz durchgeführt und Webinare gehören inzwischen zum Angebot der meisten Weiterbildungseinrichtungen.
Fabian Soding: Zu dem erwähnten gewachsenen Bewusstsein für die Notwendigkeiten und Probleme in dem Feld Digitalisierung gab es im April 2021 eine Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirates beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie zu den Lehren aus der Corona-Krise für die Digitalisierung in Deutschland. Die im Fazit enthaltenen Empfehlungen sind relativ ausführlich und konkret. Sie fassen den Stand der Problemerkennung gut zusammen. Wie jetzt gehandelt wird müssen wir weiter beobachten.
Als Auftakt der diesjährigen bundesweiten Aktionstage „Netzpolitik und Demokratie“ findet am 15. November die Partnerkonferenz der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung statt. Zum Thema: „Digitale Bildung und der Faktor Mensch“. Sie haben diese Konferenz inhaltlich maßgeblich mitgestaltet. Wer nimmt an ihr teil und um was genau geht es?
Annette Rehfeld-Staudt: Unsere jährlich stattfindende Partnerkonferenz richtet sich an die Multiplikatoren im Bereich der politischen Bildung. Also an unserer Partnerorganisationen, mit denen wir gemeinsam Veranstaltungen machen. Und wir alle haben in den letzten anderthalb Jahren von einem zuvor fast komplett analogen Betrieb auf überwiegend digitale Veranstaltungsformate umgestellt. Das war für uns völlig neu – und musste spontan realisiert werden, für Konzepte war so gut wie gar keine Zeit. Deswegen nutzen wir die Partnerkonferenz 2021 für eine gemeinsame Reflexion: Was hat es mit uns als Bildungsträgern gemacht, von heute auf morgen in digitale Formate zu wechseln? Arbeiten wir jetzt ganz anders als vorher? Welche Erfahrungen haben wir gemacht? Was hat gut geklappt, was hat nicht geklappt?
Die Konferenz läuft unter dem Titel „Digitale Bildung und der Faktor Mensch“, weil wir in den Blick nehmen wollen, wie diese plötzliche Digitalisierung auf uns Menschen und unser Miteinander wirkt. Darauf, wie wir lehren und wie wir lernen. Was verändert sich, wenn Unterricht, Konferenzen, Team-Gespräche nicht mehr analog stattfinden, sondern online?
Widmet sich die Partnerkonferenz damit erstmals einem digitalen Hauptthema?
Fabian Soding: Auf jeden Fall. In den Jahren davor haben wir uns oft mit methodischen Fragen auseinandergesetzt. Dabei ging es schon auch mal um digitale Themen, aber eher am Rande. Tatsächlich ist bei unserer Partnerkonferenz am 15. November Digitalisierung zum ersten Mal das Leitthema der Konferenz. Spannend werden sicher die Inputs von unseren Referent:innen, Professor Julian Nida-Rümelin und Marina Weisband, und der anschließende Austausch der Partner:innen im Barcamp. Ich bin gespannt, welche Aspekte zum Thema „Faktor Mensch“ dort eingebracht werden. Und denke, dass die Diskussionen zwischen unterschiedlichen Akteuren unser Kernthema mit Leben füllen werden.
Annette Rehfeld-Staudt: Professor Julian Nida-Rümelin wird sich als Philosoph auf der Meta-Ebene mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen und sein Verständnis des „digitalen Humanismus“ präsentieren. Und Marina Weisband ist in der praktischen politischen Bildungsarbeit aktiv. Sie hat unter anderem das digitale Beteiligungsprojekt „aula“ für Schulen initiiert. Ihr Impuls-Vortrag wird daher auch auf die konkrete Umsetzung digitaler Bildung eingehen.
Medienkompetenz und digitale Bildung sind der rote Faden der bundesweiten Aktionstage „Netzpolitik und Demokratie“. Das Angebot an Veranstaltungen ist inhaltlich sehr vielfältig. Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die wichtigsten Themen?
Fabian Soding: Phänomene wie Desinformation oder „Fake News“ sind ein ganz zentrales Problem unserer Zeit: Das haben die Coronapandemie und die damit einhergehende Informationsflut aus den unterschiedlichsten, oftmals unseriösen Quellen gezeigt. Das spiegelt sich auch in den Veranstaltungen, die für die Aktionstage 2021 eingereicht wurden. Das überschneidet sich eng mit dem Thema Verschwörungs-Narrative, zu dem die Aktionstage auch eine Menge Veranstaltungen anbieten. Weitere Themen, die eine wichtige Rolle spielen, sind Geschlechtergerechtigkeit, Antisemitismus- und Rassismus-Prävention im Netz, Künstliche Intelligenz sowie digitale Inklusion.
Annette Rehfeld-Staudt: Was die Medienkompetenz der Nutzer:innen digitaler Angebote betrifft, müssen wir immer wieder feststellen, dass viele Menschen die Masse an Informationen aus dem Netz nicht kritisch einordnen können. Zu überprüfen, aus welcher Quelle Informationen kommen, wäre aber sehr wichtig. Da ist ein großer Bedarf an Weiterbildung: Wie lerne ich zu filtern, woher weiß ich, was seriöse Quellen sind und was nicht? Orientierungswissen ist gefragt.
Wo setzen die Landeszentralen für politische Bildung als Veranstalter der Aktionstage, an? In welchen Formaten und in welchem Rahmen lässt sich Medienkompetenz vermitteln?
Annette Rehfeld-Staudt: In unseren Angeboten versuchen wir, aufzuzeigen, wie die Nutzer:innen die Entwicklungen im Netz einordnen können. Um ein Beispiel zu nehmen: Wer soziale Plattformen und Netzwerke nutzt, sei es Facebook, Instagram, SnapChat, TikTok oder You Tube, sollte immer auch kritisch hinterfragen: Was sind die Interessen dieser Netzwerke? Werden hier wirklich relevante Informationen verbreitet oder geht es vor allem darum, Traffic, Follower und Aufmerksamkeit zu schaffen? Zur kritischen Nutzung gehört auch die Frage, was mit unseren Daten geschieht, die wir den Netzwerken preisgeben.
Fabian Soding: Die Aktionstage selbst sind ein wichtiges Weiterbildungs-Format! Hier vernetzen sich die 16 Landeszentralen für politische Bildung und stimmen sich zu aktuellen netzpolitischen Themen ab. Aus diesem fachlichen Austausch entsteht dann ein vielfältiges Veranstaltungsangebot. Eine ganze Woche steigen wir tief in das Thema Netzpolitik und Demokratie ein: In zahlreichen Workshops, Seminaren und Diskussionen, der sich an Bildungsträger – unter anderem an Schulen –, an Multiplikator:innen und Teilnehmer:innen bundesweit richtet.
Wir haben über Gefahren der digitalen Mediennutzung und einen großen Weiterbildungsbedarf gesprochen. Worin sehen Sie denn das Potential und die Chancen der Digitalisierung?
Fabian Soding: Natürlich ist es toll in einer Zeit zu leben, in der ich 24 Stunden am Tag und weitestgehend kostenfrei Zugang zum Wissen der Welt habe – und auch mit dieser Welt kommunizieren kann. Disee Romantik aus den Anfangstagen des Internets überwiegt trotz aller Schwierigkeiten bei mir immer noch die Wahrnehmung.
Bei genauerem Hinsehen gibt es ja so gut wie keinen Lebensbereich mehr, der nicht in der einen oder anderen Weise digitalisiert worden ist. Da lassen sich die Uhren nicht wieder zurückdrehen. Bildung ist der Schlüssel zur Teilhabe an – und Orientierung in – dieser digitalisierten Welt. Politische Bildung kann sich außerdem dem digitalen Feld schon alleine deswegen nicht verschließen, weil auch dort unsere Zielgruppe ist. Die Bürger:innen haben meiner Meinung nach ein Recht darauf, uns online zu erreichen, unsere Angebote dort zu vorzufinden und an diesen auch teilhaben zu können.
Die Auftaktveranstaltung "Digitale Bildung und der Faktor Mensch. Herausforderungen für die politische Bildung" wird am 15. November 2021 um 10 Uhr live bei YouTube übertragen: Livestream der Partnerkonferenz der SLpB am 15. November 2021.