Putin scheitert an überzogenen Ambitionen
"Es ist ein Krieg des Guten gegen das Böse! Der russische Soldat ist heute ein Krieger des Lichts, der für die Bewahrung der Orthodoxie und Russlands kämpft. Er ist ein Kämpfer des himmlischen Heeres!“ Mit diesen Worten verklärt die russisch-orthodoxe Militärgeistlichkeit auf ihrer Website den Charakter der „Spezialoperation“ in der Ukraine, den die orthodoxe Kirche entgegen der üblichen Sprachregelung schon „Krieg“ nennen darf.
Heute, so heißt es in einem Video, „kämpfen in der Ukraine infernale Kräfte gegen die Orthodoxie und die russischen Soldaten. Es sind Fälle von offenem Satanismus in den Reihen der ukrainischen Streitkräfte bekannt. Sogar Opferdarbringungen sind unter den radikalsten Nazis verbreitet." (Wojennoje duchowenstwo, 17.4.2022: Wird die Spezialoperation zu einem heiligen Krieg? pobeda.ru/k-prosmotru.html.)
Mit diesem verlogenen Video übertrumpft die russische Orthodoxie sogar die an Falschmeldungen und verdrehten Interpretationen reiche russische Propaganda. Sie erweist sich in einer für den Kreml höchst brisanten Situation als zuverlässige Stütze des Putin-Staates. Das ist nicht verwunderlich. Das Oberhaupt der Kirche, Patriarch Kyrill I., bürgerlich Wladimir Gundjajew, war aktiver Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Das verbindet ihn mit dem Ex-Geheimdienstoffizier Wladimir Putin.
Großmacht oder gar nicht
Für das Putin-Regime ist der Krieg gegen die Ukraine, der bereits 2014 mit der Annexion der Krim und der de Facto- Besetzung von Teilen der Ostukraine begann, Teil eines größeren Projekts, bei dem jede helfende Hand gebraucht wird. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den schwierigen 1990er Jahren arbeitete Präsident Wladimir Putin seit seiner Amtseinführung im Jahr 2000 daran, den einstigen Großmachtstatus der UdSSR für die Russische Föderation zurückzugewinnen. Dabei sieht er sich historisch im Recht. Denn: Russland existiert entweder als Großmacht oder gar nicht. Dieses Postulat, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, zieht sich seit der Zeit der russischen Zaren durch die Geschichte des Landes und nistet in den Köpfen seiner Bewohner.
2006 ließ Putin die „russische Welt“ erfinden. Zunächst als geografisch-kultureller Raum gedacht, in dem russischsprachige Menschen leben, wurde daraus sehr schnell ein Vehikel, großrussische Ambitionen zu transportieren. Heute versteht Moskau sich als „Verteidiger“ all jener Menschen weltweit, die die russische Sprache sprechen und denen man gegebenenfalls zur Hilfe eilen wird. Wie zum Beispiel im ukrainischen Donbass. Damit nicht genug, hat sich Putin zum Bewahrer der Orthodoxie und der großen menschlichen Werte aufgeschwungen, die – so die Lehre von der historischen Mission Russlands – vom „kollektiven Westen“ schmählich verraten worden sind.
Ganz allein gegen die Welt
Die russischen Sicherheitsdoktrin vom Juli 2021 warnt, im Westen würden „persönliche Freiheiten verabsolutiert“. Dort walte „eine aktive Propaganda der Freizügigkeit, der Sittenlosigkeit und des Egoismus; es wird ein Kult der Gewalt, des Konsums und des Vergnügens durchgesetzt; es wird der Konsum von Drogen legalisiert und eine Gesellschaft gebildet, die den natürlichen Lebenszyklus [gemeint ist die Vater-Mutter-Kinder-Familie – d. Autor] negiert.“ Dem Dokument zufolge wachse dadurch der Druck des Westens auf Russland – und damit die Gefahr einer Spaltung der russischen Gesellschaft.
Hauptkonkurrent waren in der Zeit des Kalten Krieges die USA, sie sind es heute aus Kreml-Sicht immer noch. Unter diesem Blickwinkel gerät der von Putin am 24. Februar völlig grundlos vom Zaun gebrochene Krieg gegen die Ukraine in den Köpfen der russischen Führungsclique zu einem Stellvertreterkrieg der Vereinigten Staaten auf ukrainischem Territorium. Damit wird auch erklärt, warum es mit dem Erreichen der anfangs proklamierten Kriegsziele – Entnazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine – bis zum 9. Mai 2022, dem Tag des Sieges gegen Hitlerdeutschland, nicht geklappt hat. Und wieder, so besagt ein neuer, jüngst aus der Taufe gehobener Mythos, kämpfe Russland, wie schon im Großen Vaterländischen Krieg, „ganz allein gegen die Welt“.
Die Säulen der Macht
Putins Herrschaft stützt sich – neben der russisch-orthodoxen Kirche - auf die sogenannte Vertikale der Macht. Ein Machtsystem, in dem demokratische Institutionen nur noch der Form halber existieren, ein System, in dem es weder Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz noch freie Medien gibt und Opposition zum Straftatbestand wurde. Es ruht auf mehreren Säulen.
Das Rückgrat des Systems bilden die russischen Geheimdienste, deren Führungspersonal seinen Aufstieg mehrheitlich der gemeinsamen Zeit mit Putin in Leningrad/St. Petersburg verdankt. Sie hatten schon damals den Ruf, nützlich und loyal zu sein und über weitverzweigte Mafiakontakte zu verfügen. Sie bilden heute die neue herrschende Klasse in Russland. Präsident Putin gebietet über mehrere Geheim- und Sicherheitsdienste. Dies sind die wichtigsten:
Der Föderale Sicherheitsdienst (FSB) untersteht direkt dem Präsidenten, die operative Leitung obliegt seit 2008 dem FSB-Direktor Alexander Bortnikow. Die Zahl seiner Untergebenen wird auf rund 350.000 geschätzt. Der Dienst für Auslandsaufklärung (SWR) ist ausschließlich im Ausland aktiv und befasst sich mit politischer, Wirtschafts- und Wissenschaftsspionage. Der Föderale Wachdienst der Russischen Föderation (FSO) ist für die Sicherheit des staatlichen Führungspersonals zuständig. Die GRU - Hauptverwaltung Aufklärung des Generalstabs der russischen Streitkräfte – betreibt Militärspionage. Zu seinem Repertoire gehören Mordkomplotte, verdeckte Militäreinsätze, Hackerangriffe und Einmischung in Wahlen.
Die zweite Stütze wird von den Chefs der Staatsunternehmen wie Rosneft (Erdöl), Gazprom (Erdgas), Sberbank (Finanzen), Rostec (Dachorganisation der russischen Hightech-Industrie) und dem Transportmonopolisten Russische Bahnen (RZD) gebildet. Die umfangreichen Sanktionen des Westens dürften ihre Handlungsfähigkeit und damit ihre Möglichkeiten, Putins Staat zu erhalten, in naher Zukunft erheblich einschränken.
Dritte Stütze: Putins Petersburger Buddies, die sich zu Beginn der 1990er Jahre in der Datschen-Kooperative „Osero“ (Der See) zusammengefunden hatten. Heute sind diese Männer Millionäre oder, wie Jurij Kowaltschuk, der Erdölhändler Timtschenko und die Rotenberg-Brüder, Milliardäre. Sie wissen, wem sie den kometenhaften Aufstieg verdanken und sind entsprechend loyal gegenüber ihrem Präsidenten, dem sie u.a. Luxusanwesen finanzieren.
Eine weitere Stütze sind die Offshore-Banken, bei denen Freunde des Präsidenten Konten halten und Gelder weiterleiten. Als die Panama-Papers einen Zipfel dieser finanziellen Halbwelt lüfteten, standen auch Putinvertraute wie der Cellist Roldugin, über dessen Konten Milliarden Dollar geflossen waren, im Tageslicht. Und schließlich darf die Armee, angeführt von Verteidigungsminister Sergej Schoigu, nicht vergessen werden. Sie gilt als höchst loyal, dem Kremlchef ergeben. Sie erlebt allerdings in der Ukraine ein so nicht erwartetes Fiasko. Die superreichen Oligarchen existieren noch, sind im Kreml als Finanziers willkommen, haben aber kaum Einfluss auf das Geschehen.
Aggressivität nach außen
Gestützt auf dieses innere Gerüst ergebener Strukturen, versuchte Putin mit zunehmender Aggressivität die Rolle Russlands als Großmacht zurückzugewinnen. Hinderlich waren dabei die zunächst sehr intensiven Beziehungen zu westlichen Ländern. Sie wurden in der Anfangsphase seiner Regentschaft aus ökonomischen Gründen dringend gebraucht. Die Handelsbeziehungen entwickelten sich, das Verhältnis zur Nato war entspannt. Es gab einen regen Austausch in Wissenschaft, Kultur und zwischen nichtstaatlichen Organisationen. Der Kreml sah darin schon bald eine Gefahr für die innere Entwicklung Russlands. Er fürchtete, ihm könnte die Kontrolle über das Land entgleiten, das er an der kurzen Leine der „gelenkten“ oder auch „souveränen“ Demokratie zu beherrschen gedachte. Die westlichen Demokratien wurden nach und nach zu Feinden aufgebaut, gegen die man sich wehren müsse. Zunehmende Restriktionen im Inland hielt oppositionelle Kräfte klein und vernichteten sie schließlich nahezu völlig.
Die Abkehr vom Westen, die spätestens mit der Rede Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 offenkundig wurde, war keineswegs – wie die Putinclique bis heute behauptet – eine Folge „unfreundlicher“ Handlungen der westlichen Staaten. Vielmehr sah sich das Putin-System, siehe Sicherheitsdoktrin, allein durch die Existenz einer alternativen Gesellschaft bedroht. Nicht weniger wichtig: in Kooperation mit den Europäern und den Amerikanern würde Moskau nie das erreichen, was es eigentlich wollte, nämlich die Zurückgewinnung russisch-sowjetischer Einflusszonen und einen Platz auf dem Thron zumindest in Europa. Dort säßen die Amerikaner allein, beklagte sich Putin 2016 in einem Interview mit der BILD-Zeitung. Und weil sie dort allein säßen, gebe es die ganzen Probleme. Mit anderen Worten - lasst uns mit auf den Thron, und es gibt Ruhe.
Auf der Suche nach Einflusssphären
Das hieße, dass man Moskau seine Einflusssphären aus sowjetischer Zeit zugestehen, die Osteuropäer und die ehemaligen Sowjetrepubliken erneut unter Moskauer Kuratel stellen müsste. Was das Ende ihrer nach dem Ende der Sowjetunion gerade erst erlangten Souveränität bedeutet hätte. Diese Vorstellung wurde zu Recht zurückgewiesen. Moskau reagierte höchst verärgert und wandte sich ab 2012 China zu, bis heute mit zweifelhaftem Erfolg. Die Chinesen, die selbst eigene Ambitionen verfolgen, betrachten Russland vor allem als Rohstofflieferanten. Beim Aufbau einer chinesischen Hightech-Industrie kann Moskau nicht behilflich sein, dafür braucht es die Amerikaner.
Moskaus Weg in den aktuellen Krieg in der Ukraine war von Ereignissen begleitet, die als Warnzeichen hätten wahrgenommen werden müssen. Schon in den 1990er Jahren, in der Zeit der Jelzin-Herrschaft, nutzte der Kreml regionale Konflikte im postsowjetischen Raum, um sich als „Friedensbringer“ zu präsentieren. Mit dem Ergebnis, dass in Tadschikistan, Transnistrien (zu Moldau gehörig) und Südossetien (Georgien) bis heute russisches Militär steht, das die Lage kontrolliert und sie bei Bedarf auch eskalieren kann.
Mit dem Krieg gegen Georgien 2008, der Eroberung der Krim und der de-Facto-Besetzung der Ostukraine 2014 und dem brutalen Militäreinsatz in Syrien ab 2015 erreichte Putins Invasionspolitik eine neue Stufe. Die Reaktionen auf die eklatanten Brüche des Völkerrechts waren eher symbolischen Charakters. Der Kremlchef fühlte sich in seinem aggressiven Tun bestätigt, am 24. Februar 2022 griff er erneut die Ukraine an.
Mittelfristig wird das Putin-System nicht überleben
Der Krieg, der in Russland nur „Militäroperation“ genannt werden darf, andernfalls drohen Geld- oder Haftstrafen, wird von zahlreichen russischen Fehleinschätzungen begleitet. So wurden die russischen Truppen in der Ukraine nicht, wie angenommen, als „Befreier vom Faschismus“ mit Blumen begrüßt. Sie stießen vielmehr auf den entschlossenen Widerstand einer unerwartet kampfstarken ukrainischen Armee, ausgerüstet mit effektiven westlichen Panzerabwehrwaffen. Dagegen erwiesen sich die russischen Truppen als erstaunlich schwach, schlecht geführt und mit mangelnder Kampfmoral ausgestattet.
Putins größter Fehler: er hatte die Reaktionen der westlichen Welt auf den eklatanten Bruch des Völkerrechts in dieser Konsequenz und Härte nicht erwartet. Zudem hat er nicht begriffen, dass er mit seinem Überfall auf die Ukraine die ökonomische Basis seines Herrschaftssystems selbst zerstört. Dieses System basiert auf dem Export vor allem von Gas und Öl. Wegen des Krieges wenden sich die Kunden von Russland ab, weitere Sanktionen greifen nach und nach. Mittelfristig, so ist zu erwarten, wird das Putin-System das nicht überleben.
Die Sowjetunion ging letztlich an einem „Imperial Overstretch“ zugrunde, an der Diskrepanz zwischen Weltmachtambitionen und der tatsächlichen Leistungsfähigkeit. Heute führt Putin die Russische Föderation – ohne Not, nur aufgrund eigener Fehlurteile – in genau diese Richtung.
Manfred Quiring arbeitet als Journalist und Sachbuch-Autor. Er war über 20 Jahre als Korrespondent in Moskau tätig. Seine Spezialgebiete sind das politische System Russlands und der Kaukasus.
Quirings aktueller Band "Russland. Ukrainekrieg und Weltmachtträume" ist in Kürze in der SLpB erhältlich.