Rede von Frank Richter bei der Feierstunde zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit im Sächsischen Landtag am 3. Oktober 2015

"Im Herbst 1989, mitten im Geschehen dessen, was wir heute die Friedliche Revolution in der DDR nennen, erfüllte sich für mich ein Traum. Es war der Traum, ein Leben in äußerlicher Freiheit und ohne Angst vor ideologisch begründeten Repressionen führen zu können. Ich war glücklich." Frank Richter, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung sprach im Rahmen der Feierstunde zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit im Plenarsaal des Sächsischen Landtages.

Sächsischer Landtag, Dresden, 3. Oktober 2015 | Es gilt das gesprochene Wort
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Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren,

wir begehen das 25jährige Jubiläum der Wiedererrichtung des Freistaates Sachsen und der Wiedervereinigung Deutschlands. Ich darf zu Ihnen sprechen als einer, der sich der politischen Bildung verpflichtet weiß. Meine Rede kann – so gebietet es die Funktion – keine Laudatio sein. Sie muss der Versuch sein, eine historische und politische Einordnung vorzunehmen. Gleichwohl: es steht kein Funktionär vor ihnen, sondern ein Mensch mit einer persönlichen Beziehung zum Gegenstand der Betrachtung. Die darf ich Ihnen sagen. Sie lautet: Im Herbst 1989, mitten im Geschehen dessen, was wir heute die Friedliche Revolution in der DDR nennen, erfüllte sich für mich ein Traum. Es war der Traum, ein Leben in äußerlicher Freiheit und ohne Angst vor ideologisch begründeten Repressionen führen zu können. Ich war glücklich.

Am 3. Oktober 1990 war ich froh und zufrieden, nicht, weil ich im Staat namens Bundesrepublik die Erfüllung all meiner anderen Träume gesehen hätte. Ich hatte wenige Illusionen und viele Fragen, Fragen, die bis heute geblieben sind. Ich war froh und zufrieden, weil ich die staatliche Teilung des deutschen Volkes als etwas Unnatürliches empfunden hatte. Diejenigen übrigens, die mich am eindrücklichsten in diesem Empfinden bestärkt hatten, waren Russen, Militärangehörige, mit denen ich in meiner sächsischen Heimatstadt Großenhain – einer Garnisonsstadt – gelegentlich ins Gespräch gekommen war. Sie sagten mir hinter vorgehaltener Hand, dass die Teilung Deutschlands in zwei Staaten nicht auf Dauer bestehen könne. Die sowjetische Militärpräsenz in der DDR firmierte bis zum Ende unter dem Namen: „(West-)Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“.

Ich war froh und zufrieden, weil ich das Grundgesetz der Bundesrepublik als ein hervorragendes Fundament für das Zusammenleben der Menschen erachtete, das sich an den Werten orientierte, die meinem christlich geprägten Menschenbild entsprachen, Werten wie zum Beispiel Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Die Verfassung des Freistaates Sachsen bezieht sich in ihrer Präambel außerdem auf den Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Ich hätte nichts dagegen einzuwenden, wenn auch diese Begriffe an prominenter Stelle und als Orientierungen staatlichen Handelns ins Grundgesetz aufgenommen würden.

Sehr geehrte Damen und Herren, die drei historischen Prozesse Friedliche Revolution in der DDR, Wiedervereinigung Deutschlands und die sich anschließende Transformation können nicht getrennt voneinander behandelt und begriffen werden. Gleichwohl können und sollten wir sie voneinander unterscheiden. Diese drei Prozesse finden in unserer Erinnerung zusammen an jedem 3. Oktober.

Der 3. Oktober gehört zu den Tagen im Jahr, welche die Deutschen einladen, anzuhalten und die Geschichte vor das geistige Auge zu stellen. Feiertage sind in gewisser Hinsicht das Gegenteil von freien Tagen. An freien Tagen verlustieren wir uns – auch gedanklich – im Grünen. Wir geben uns der Muße hin. Wir pflegen die freien Künste. Wir entwickeln Kreativität. Freie Tage sind elementar wichtig für die Generierung und Regenerierung unserer Humanität.

Feiertage binden und verbinden uns durch eine vorgegebene und gemeinschaftlich realisierte Bezugnahme auf ein geschichtliches Ereignis oder eine Idee. Die Bundesrepublik Deutschland übertreibt es nicht bei der Festlegung staatlicher Feiertage. Sie übt geschichtspolitische Zurückhaltung. Gott sei Dank. Geschlossenen Gesellschaften, autoritären Regimes und totalitären Staaten ist es eigen, die Deutung der Vergangenheit festlegen und durchsetzen zu wollen. Sie wollen und müssen beweisen, ein für allemal die Sieger der Geschichte zu sein. Diese Vorhaben sind lächerlich und zum Scheitern verurteilt.

Freiheitlich gesinnte Menschen und die Repräsentanten demokratisch verfasster Gemeinwesen wissen, dass es eine Deutungshoheit über die Geschichte nicht geben kann, jedenfalls nicht auf Dauer. Wir leben in einem freiheitlich und demokratisch verfassten Gemeinwesen. Die gemeinschaftliche Feier des 3. Oktober tut uns gut, wenn wir den Tag offen halten für die Vielfalt der unterschiedlichen (auch kontroversen) Deutungen und uns zugleich versammeln und solidarisch verbinden als Deutsche und europäisch gesinnte Demokraten.

Vor diesem Hintergrund darf ich Ihnen drei historisch-politische Bewertungen vortragen:

Erstens: Das, was in der Friedlichen Revolution geschah, trug in sich die moralische Substanz, die Deutschen am Ende des 20. Jahrhunderts mit sich selbst zu versöhnen. Wir sind angesichts aktueller politischer und gesellschaftlicher Veränderungen darauf angewiesen, auf diese moralische Substanz zurück zu kommen.

Am Ende des 20. Jahrhunderts, des Jahrhunderts, in dem Deutsche anderen Völker unsägliches Leid angetan hatten, in dem sie jeden moralischen Kredit verloren zu haben schienen, brachten sie, die Deutschen eine Revolution zustande, in der kein Tropfen Blut floss. Wer hätte ihnen das zugetraut? Wahrscheinlich hatten sie es sich selbst nicht zugetraut. Deutsche hörten auf, hörige Untertanen zu sein. Deutsche begannen, sich wie Citoyens zu benehmen, wie Bürger, die, als sie erkannt hatten, dass es den Regierenden ausschließlich um das eigene Wohl und um das Wohl ihrer Partei ging sich die ihnen zukommende Souveränität zurück holten und die Sorge um das Allgemeinwohl in die eigenen Hände nahmen.

Der Ruf „Wir sind das Volk“ gilt zu Recht als Wiederentdeckung der Volkssouveränität. Es ist irritierend und abstoßend, diesen Ruf erneut hören und ertragen zu müssen als einen Ruf der Ausgrenzung und Ablehnung von Flüchtlingen. Wir sollten uns als Demokraten davon nicht verunsichern lassen. Der Ruf „Wir sind das Volk“ gehört nicht den Denkmalpflegern. Er gehört allen. Wenn er ertönt, sollten wir aufmerksam hinhören und zu verstehen suchen, was gemeint ist und was dahinter steckt. Beim Versuch zu verstehen, geht es nicht ums Nachgeben und schon gar nicht ums Nachlaufen. Die Erinnerung an die Friedliche Revolution allerdings verbietet uns jedwede Überheblichkeit.

Zweitens: Mit der Wiedervereinigung Deutschlands setzte ein umfassender und tief greifender gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer und auch kultureller Transformationsprozess ein, ein Prozess, der seines Gleichen sucht – wenigstens, was die Kürze der Zeit und seine Schnelligkeit betrifft.

Für die Menschen im Osten Deutschlands bedeutete diese Transformation tägliches und hartes Brot. Für viele blieb kein Stein auf dem anderen. Für viele Menschen im Westen und aus dem

Westen erschien die Transformation zunächst gar nicht als solche. Sie bedeutete vielen zunächst nichts mehr als eine geografische Erweiterung des Bekannten und Vertrauten. Mit der Zeit freilich erfuhren und begriffen auch sie, wie sehr sich Deutschland veränderte.

Die Veränderungen der vergangenen 25 Jahre waren umfassend und tief greifend, besonders für die Menschen im Osten. Ich sehe Erscheinungen von Erschöpfung. Diese treten gerade jetzt zu Tage, da sich unsere Gesellschaft erneut auf große Veränderungen einzustellen hat.

Die hier geborenen und sozialisierten Menschen hatten gelernt, was es heißt, Bürger der DDR zu sein. Sie konnten und mussten lernen, was es heißt, Bürger der Bundesrepublik zu sein. Sie konnten und mussten lernen, was es heißt, Europäer zu sein, Bürger im Schengen-Raum. Sie können und müssen nun lernen, was es heißt, Weltbürger zu sein. Weltbürger sein, das heißt: mit den Nöten, Kriegen und Katastrophen einer Welt, die vielerorts aus den Fugen geraten ist, in gnadenlos offener Weise konfrontiert und als Bürger eines starken Landes in die Konsequenzen hinein gezogen zu werden. Das ist nicht für jeden gleichermaßen leicht zu verkraften.

Ich sage das nicht, um engstirnige Provinzialität oder fremdenfeindliche Ressentiments zu entschuldigen. Ich benenne es, um Verständnis zu wecken für die Mitbürger, denen es schwer fällt, sich erneut auf die bevorstehenden grundlegenden Veränderungen der Gesellschaft einzustellen.

Es ist leider so: Sachsen geriet zum wiederholten Mal in den Ruf, ein Hort des Rechtsextremismus, der Fremdenfeindlichkeit und gewalttätiger Auseinandersetzungen zu sein. Flüchtlinge und Asylbewerber wurden offen attackiert. Ebenso wurden Politiker und Polizisten angegriffen. Die Diffamierung und die Hetze gegen Menschen, die aus verschiedenen Gründen – oft ist es ihre nackte Angst ums Überleben – bei uns Hilfe und Schutz suchen, offenbarten sich in einem bisher nicht bekannten Ausmaß.

Sachsen ist ein der europäischen Kultur und somit auch der Aufklärung verpflichtetes Gemeinwesen. Der Reichtum des Landes wurde auch durch Menschen begründet und gemehrt, die aus der Fremde zu uns kamen.

Ob wir die Herausforderungen bewältigen, vor denen die Zivilisation derzeit steht, ist auch eine Frage unserer kulturellen Identität. Es ist offensichtlich, dass es einfache Lösungen nicht gibt. Umso wichtiger ist die Suche nach klaren Orientierungen und effektiven politischen Strategien. 

Sehr geehrte Damen und Herren, die Nöte vieler Flüchtlinge und Asylbewerber sind existentieller Natur. Diese Menschen aufzunehmen und menschenwürdig zu behandeln, ist ein Ausdruck unseres Selbstverständnisses. Die Sorgen und Fragen der Bürger unseres Landes, wie die Entwicklung wohl weiter geht und wie lange die Kraft Deutschlands und Europas reicht, die vielen Flüchtlinge aufzunehmen – diese Sorgen und Fragen erscheinen vergleichsweise klein. Sie sind allerdings nicht weniger wichtig.

Es macht keinen Sinn, die existentiellen Nöte der Flüchtlinge gegen die berechtigten Sorgen und Fragen der ansässigen Bevölkerung auszuspielen. Wir können den Charakter der Bundesrepublik als humanitären Staat nicht ohne und schon gar nicht gegen die Aufnahmebereitschaft der Mehrheit der Bürger aufrechterhalten. Zum offenen Dialog zwischen Politik und Gesellschaft gibt es keine vernünftige Alternative.

Unsere Kultur, die wir schätzen und lieben, hat zwei Funktionen. Einerseits stiftet sie Identität. Sie definiert und grenzt ab von anderen Formen der Weltdeutung, der Art des Lebens und des Zusammenlebens. Sie versucht zu überzeugen. Andererseits lebt sie vom Austausch. Sie teilt sich mit. Sie öffnet sich und sucht die Bereicherung durch andere Formen des Lebens. Sie lässt sich überzeugen.

Mittlerweile dämmert es allen, dass sich unsere Gesellschaft grundlegend verändern wird. Für den Einen erscheint diese Veränderung wie eine Abenddämmerung. Das Deutschland, wie er es schätzt und liebt, scheint unterzugehen. Für den Anderen erscheint diese Veränderung wie eine Morgendämmerung. Das Deutschland, wie er es sich in Zukunft vorstellt, tritt ans Tageslicht. Dem Einen scheint es so; dem Anderen scheint es anders. Im Innersten wissen beide, dass es nicht um Tag oder Nacht und nicht um Schwarz oder Weiß geht, sondern darum, die Veränderungen im Ausgleich zwischen dem Bewahren und dem Erneuern im gegenseitigen Respekt und kultiviert zu gestalten.

Drittens: Revolutionen und gesellschaftliche Umbrüche verändern die Verhältnisse. Sie verändern nicht die Charaktere der Menschen. Sie bringen es mit sich, dass diese deutlicher hervor treten als sonst. Wir haben 1989, 1990 und in den Folgejahren viele mutige, selbstlose, solidarische, ökonomisch intelligente und politisch weitsichtige Menschen kennen gelernt, Menschen, die wir ohne diese Umbrüche niemals kennen gelernt hätten. Einerseits. Wir haben andererseits viele Feiglinge, Wendehälse, Raubritter und Karrieristen kennen gelernt, Menschen, die wir ohne diese Umbrüche gar nicht hätten kennen lernen müssen. Ja. Die Deutschen haben sich kennen gelernt.

Im Revolutions-, im Wiedervereinigungs- und in dem seit 25 Jahren anhaltenden Transformationsprozess wurde Großartiges geleistet, es wurden Fehler begangen, es mussten Enttäuschungen erfahren und verarbeitet werden, es blieben politische Fragen unbeantwortet und manch individuelle Schuld blieb ungesühnt. Im Großen und Ganzen, so mein Resümee, haben es die Deutschen ganz ordentlich hinbekommen.

Freilich – die Betrachtung des „Großen und Ganzen“ ist immer problematisch. Sie läuft Gefahr und kann nicht ausschließen, dem Einzelnen, dem vermeintlich kleinen und unwichtigen Mitbürger, dem Schwachen, der sich nicht zu Wort meldet und keine Lobby hat, Unrecht zu tun.

Dass wir heute eine gute Staats- und Gesellschaftsordnung haben – die beste, die Deutschland je besaß – heißt noch lange nicht, dass wir eine gute Gesellschaft sind. Als gelernter DDR-Bürger weiß ich: Auch in einer schlechten Ordnung vermögen kluge, intelligente und solidarisch handelnde Menschen, Vernünftiges auf die Beine zu stellen. Das heißt im Umkehrschluss: Die beste Ordnung nützt nichts, wenn sie von den Menschen, für die sie gemacht ist, innerlich nicht ratifiziert wird. Demokratie geht nur mit Demokraten. Wir können uns nicht auf gedrucktes Papier verlassen. Wir müssen die Demokratie täglich erneuern auf der Grundlage der moralischen Substanz, die wir in der Friedlichen Revolution unter Beweis gestellt haben.  

Sehr geehrte Damen und Herren, Friedrich Hölderlin wendete sich im Hyperion, einem Briefroman, an die Deutschen. In diesem Buch gibt es einen Satz. Der fällt mir immer dann ein, wenn die politischen und gesellschaftlichen Debatten von den Kategorien des Ökonomischen und Finanziellen dominiert werden. Ich möchte ihn am Ende zitieren:

„O, ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt,
ein Bettler, wenn er nachdenkt,
wenn ihn aber die Begeisterung verlassen hat,
dann ist er wie der missratene Sohn, welcher die paar Pfennige zählt,
die ihm das Mitleid mit auf den Weg gab.“

Leider, meine Damen und Herren, wirkt dieser Satz, so wie Hölderlin ihn formuliert hat, etwas pessimistisch. Ich möchte ihn in optimistischer Weise umformulieren:

Wenn uns die Begeisterung verlassen hat,
dann beginnen wir die Pfennige zu zählen, die man uns mitgab.
Wenn wir nachdenken, dann kommen wir uns vor wie Bettler.
Aber – wenn wir miteinander träumen und uns eine bessere Zukunft für diese Welt ausdenken, dann sind wir Menschen ein klein wenig so wie Gott.

 

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

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