Kaum ein anderes Thema polarisiert die Menschen in- und außerhalb des Landes so sehr wie die Siedlungsfrage. Siedlungen sind von israelischen Staatsbürgern neu gebaute Ortschaften in Gebieten, die von Israel nach dem Sechstagekrieg von 1967 erobert wurden. Viele außenstehende Beobachter sehen in dieser Politik ein Bremsklotz für den Friedensprozess. Wem gehört das Land? Diese Frage wollten wir mit der Reise nach Jerusalem beantworten.
Eine der prominentesten Siedlungen der Israelis im Westjordanland ist Ma’ala Adumim. Gegründet im Jahr 1977 als kleines Dorf mit anfangs nicht mehr als 50 Familien wuchs die Gemeinschaft zu einer stolzen Stadt mit fast 40.000 Einwohnern heran. Das Wachstum erinnert stark an die sächsischen Städte Weißwasser und Hoyerswerda, die zu DDR-Zeiten eine vergleichbare Bevölkerungsexplosion erlebten. Aber natürlich sind die Rahmenbedingungen im Nahen Osten vollkommen andere als bei uns in Deutschland.
Ma’ale Adumim ist eine junge Stadt. Die Siedler betreuen ihre Kleinkinder in über 80 Kindergärten. Später stehen den Familien etwa 20 unterschiedliche Schulen zur Verfügung. Je nach Grad der Religiosität und Herkunft wählen die Eltern für ihre Kinder eine Schule, die entweder in gemischten Klassen (Mädchen und Jungen) oder getrennt unterrichtet. Dr. Torten erzählte uns, dass etwa 50 Prozent der kommunalen Haushaltsausgaben in den Bildungsbereich fließen. Davon können wir in Deutschland wahrscheinlich nur träumen. Auch für die medizinische Versorgung sei gesorgt. In der Stadt befinden sich insgesamt drei Kliniken, wo sowohl Israelis als auch Palästinenser versorgt werden. Ansonsten findet allerding kaum ein Austausch mit ihnen statt. Nach Meinung von Dr. Torten haben die Palästinenser keinen Anspruch auf einen Staat, da es diesen nie gegeben hat. Die israelischen Siedler hoffen deshalb auf die Unterstützung des neuen US-Präsidenten Donald Trump. Für Dr. Torten wäre ein palästinensischer Staat ohnehin „nicht überlebensfähig“, weil dieser keine funktionierende Staatsstruktur hätte.
Ein paar Stunden später hörten wir von Dr. Nazemi Al-Jubeh dem kompletten Gegensatz. Der in Jerusalem geborene Palästinenser lehrt seit dem Jahr 1991 Geschichte an der Universität Bir Zeit im Westjordanland. Für ihn sei der Siedlungsbau ein „Landraub in großem Maß“. Die Palästinenser würden unter den Israelis wie in einem „Apartheitssystem“ leben: „Wir entsorgen den Müll [red.: gemeint sind terroristische Strukturen innerhalb der Bevölkerung] und bekommen nichts dafür.“ Dr. Al-Jubeh sieht nach dem Regierungswechsel in den USA keine Hoffnungen mehr. US-Präsident Trump würde sich bedingungslos an die Seite der Regierung von Benjamin Netanjahu stellen, ohne palästinensische Interessen auch nur im Ansatz zu beachten. Er rechne fest mit einer neuen Intifada.
Etwas optimistischer war Suleiman Abu Dayyeh. Der in Beit Jala bei Bethlehem geborene evangelische Christ studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Bochum und Bonn und ist seit dem Jahr 1994 Leiter der Palästinenser-Abteilung bei der Friedrich-Naumann-Stiftung in Jerusalem. Er hat noch eine kleine Hoffnung für die Wiederaufnahme des Friedensprozesses. Der Ausgleich zwischen Israelis und Palästinensern sei für ihn nur in einer Zwei-Staaten-Lösung möglich. Mehr noch, für Abu Dayyeh seien die Palästinenser die „Garanten für die Zukunft der Israelis“. Mit der Befriedung würde sich seine Meinung nach auch das Verhältnis zu allen arabischen Nachbarn normalisieren. Der Nahe Osten könnte dadurch erheblich stabilisiert werden. Dazu Abu Dayyeh: „Historisch sind Juden und Araber Cousins. Leider ist es aber so, dass die Fehden zwischen Familienangehörigen am größten sind.“
Letzten Endes haben viele von uns keine richtige Antwort finden können, wie der Konflikt zwischen beiden Völkern nachhaltig befriedet werden kann. Die Reise nach Jerusalem geht deshalb auch nach unserer Bildungsfahrt weiter. Für uns in Erinnerung bleibt ein faszinierendes Land mit tollen Menschen und einer wunderschönen Naturlandschaft.