Sehr geehrte Steine- und Farbbeutelwerfer,
ich wende mich an Sie, unbekannterweise, an "Sie" im Plural oder im Singular, ich weiß es nicht, ich wende mich an Sie, weil Sie mir und meinen Kollegen in den vergangenen Tagen den Schlaf verdorben haben. Sie meinten, es sei notwendig, sich in der Nacht vom 25. auf den 26. März an das Gebäude auf der Schützenhofstraße heran zu machen, zu sondieren, "ob die Luft rein" ist, schwarze und rote Farbbeutel gegen die weiße Fassade zu schleudern und die Fensterscheiben mit Steinen zu zertrümmern.
Den roten Fleck auf weißem Grund, eine Ihrer tollen Hinterlassenschaften, haben wir auf der Titelseite des Newsletters der Landeszentrale abgebildet. (Ist das eigentlich Kunst am Bau?) Darauf können Sie stolz sein. Soweit haben Sie es gebracht. Sie haben sich in papierener und digitaler Form verewigt als ziel- und geschmacksichere Farbbeutelwerfer, anonym freilich, noch, vielleicht für immer, anonym, jedenfalls für mich und meine Kollegen. Für sich selbst sind sie es nicht.
Sie selbst wissen sehr wohl, wer Sie sind, Sie sind meine Mitmenschen und Mitbürger, die zu mir kommen und mir erzählen könnten, warum sie das getan haben. Sie hatten doch einen Plan, oder? Sie hatten doch ein vernünftiges Motiv, oder? Sie hatten offenbar etwas gegen die Landeszentrale, gegen die Arbeit meiner Kolleginnen und Kollegen, Sie hatten offenbar etwas gegen mich, als Sie sich in der Deckung der Dunkelheit auf den Weg machten mit Farbbeuteln und Steinen im Gepäck. Oder hatten Sie Frust, etwas gegen sich selbst, etwas, was Ihnen in dieser Nacht den Schlaf verdorben hat? Warum sind Sie nicht bei Tageslicht gekommen? Warum haben Sie nicht angerufen? Warum haben Sie mich nicht angesprochen? Oder haben Sie das versucht? Habe ich Sie übersehen?
Vielleicht bin ich, der diese Fragen stellt, in Ihren Augen hoffnungslos naiv, irgendwie von gestern. Ich sage Ihnen: Ich werde so bleiben. Ich kann nicht aufhören, an die Vernunft in den Köpfen und an das Gute in den Herzen meiner Mitmenschen und Mitbürger zu glauben. Ich glaube auch an die Vernunft in Ihrem Kopf. Ich glaube an das Gute in Ihrem Herzen. Ich muss es tun, sonst müsste ich meinen Job an den Nagel hängen. Aber nicht nur das. Meine Brötchen könnte ich anders verdienen. In demselben Moment, in dem ich diesen Glauben verlöre, würde ich anfangen, hart, kalt, bitter und zynisch zu werden. Ich würde beginnen, darüber nachzudenken, wie und wo ich Sie erwischen und welchen Farbbeutel ich wogegen schleudern könnte. Ich bin (noch) nicht so weit, hart und kalt und bitter und zynisch werden zu wollen. Ich will es nicht. Ich wehre mich gegen die Vorstellung.
Denken Sie bitte nicht, ich sei ein besserer Mensch oder würde mich auch nur im Entferntesten für einen solche halten. Ich bin aller Wahrscheinlichkeit nach kein besserer Mensch als Sie. Ich habe nur etwas, was Sie offensichtlich verloren haben. Die Überzeugung, dass ich von meinem ärgsten politischen Gegner etwas lernen kann und ihn deshalb nicht verlieren darf. Die Überzeugung, dass es wichtig für mich ist, ihm zuzuhören, ihn auszuhalten, gedanklich an ihm dran zu bleiben, zu versuchen, die Welt mit seinen Augen zu sehen und mit seinen Gefühlen zu fühlen.
Ich weiß die Wahrheit nicht. Wissen Sie die Wahrheit? Ich weiß, dass die Wahrheit passiert, wenn Menschen einen Dialog führen, der den Namen verdient, wenn sie beginnen, den anderen verstehen zu wollen. Unter uns: Das kommt ziemlich selten vor, in Talkshows absolut selten. Wenn es vorkommt, ist es das Gelbe vom Ei - und nicht nur das Rote an der Wand.
Soeben kam mir die Idee, dass Sie ziemlich jung sind. 23 Jahre? Stimmt doch, oder? In diesem Alter hat jeder vernünftige Mensch Ideale. Haben Sie Ideale? Sicher. Ich kann es mir nicht anders vorstellen. Sie haben Ideale, für die Sie kämpfen wollen. Wenn ich meinen Gedanken weiter spinne, dann haben Sie die Landeszentrale in Ausübung Ihres Ideals als Feind identifiziert. Sie haben sich zum mitternächtlichen Kampf entschlossen und die bereits mehrfach genannten Farbbeutel und Steine gegen diesen Feind geschleudert. David gegen Goliath.
Was haben Sie gewonnen? Was haben Sie erreicht? Sie haben ein paar Flecken hinterlassen. Sie haben einige Mitmenschen hinterlassen, meine Kolleginnen nämlich, die seit dem 26. März mit einem flauen Gefühl zur Arbeit gehen. Das ist übrigens das, was ich Ihnen am meisten übel nehme. Sie haben nicht einmal ein Bekennerschreiben hinterlassen. Sie haben Menschen gegen sich aufgebracht, Menschen, die wünschen, dass Sie gefasst und überführt werden, Menschen, die sich für Ihre Ideale interessiert hätten.
Angesichts meiner Ihnen unterstellten Jugendlichkeit kommen mir auch Ihre Stichwortgeber in den Sinn, Ihre Vorbilder, Ihre Idole. Ich kenne sie nicht. Ich empfehle Ihnen, sich mit denen hart aber fair über die mehr als magere Ausbeute Ihres nächtlichen Kampfeinsatzes zu unterhalten.
Ich biete an, künftig tagsüber auf der Schützenhofstraße 36 auf Sie zu warten. Vorschlag: Sie kommen und fragen nach mir. Sie können mit mir reden. Sie können auch mit meinen Kolleginnen und Kollegen reden. Eigentlich sind wir gar nicht so. Eigentlich sind wir okay. Wir haben etwas übrig für Menschen mit Idealen. Wir brauchen sie, damit wir schaffen können, was wir schaffen sollen. Der rote Fleck auf dem weißen Grund auf der Titelseite unseres Newsletters ist ein Angebot. Oder?
Frank Richter, Direktor der SLpB