Zu DDR-Zeiten kannte ich nur seinen Namen. Später sah ich ihn im Westfernsehen. Rupert Neudeck war der Mann, dem es in den 70er-Jahren gelang, Tausende vietnamesische Boat People aus dem Meer und vor dem Ertrinken zu retten. Wann immer sein Name genannt wurde – in den Zeitungen oder im Hörfunk – sah ich vor mir sein hageres Gesicht mit den stets strahlenden Augen. „Es ist die Bestimmung eines reichen Landes, Menschen in Not beizustehen und ihnen Hilfe zur Selbsthilfe zu gewähren.“ Rupert Neudeck hatte eine Idee von der Bestimmung (!) Deutschlands. Wer sonst wagt sich (noch) heran an diese Kategorie.
Der Theologe und Journalist war zunächst ein Mann des Denkens und des Sprechens. Er formulierte nachdenklich, abwägend und vielfach druckreif. In seinen Worten lagen Wärme, Scharfsinnigkeit und Tatkraft. Ein bloßes Theoretisieren ohne Konsequenzen konnte ich mir bei ihm nicht vorstellen.
In den Debatten um die europäische Asylpolitik forderte er ohne Wenn und Aber, die ins Land kommenden Flüchtlinge aufzunehmen. Ebenso unmissverständlich mahnte er an, sie sofort nach ihrer Ankunft zur Arbeit anzuhalten. Der deutschen und europäischen Entwicklungspolitik „nach dem Gießkannenprinzip“ stellte er ein schlechtes Zeugnis aus. Um die Flüchtlingsbewegungen zu stoppen, müssten Bildung, Ausbildung und Arbeit in den Herkunftsländern finanziert und „korruptionsfrei“ organisiert werden. Dafür seien deutsche und europäische Anstrengungen in einem bisher nicht bekannten Ausmaß vonnöten. Die deutschen Waffenlieferungen an Saudi-Arabien verurteilte er. Beim Nachdenken über das Geheimnis seiner Überzeugungskraft fiel mir auf, dass er stets aus der Perspektive der Betroffenen sprach. Es ging ihm nicht darum, recht zu behalten. Es ging ihm um die Menschen.
Als NPD-Funktionäre im Spätherbst 2013 begonnen hatten, mit abendlichen Fackelmärschen gegen die in Schneeberg eingerichtete Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber zu hetzen, und die Landeszentrale für politische Bildung Informations- und Gesprächsveranstaltungen in dieser Stadt durchführte, kam mir der Gedanke, auch Rupert Neudeck einzuladen. Er sagte zu.
Die Veranstaltung mit ihm war ausgebucht. Ich hatte es nicht anders erwartet. Was mich überraschte, war sein Talent, sich in wenigen Minuten auf die Besonderheiten der ihm unbekannten erzgebirgischen Mentalität einzustellen. Gleichermaßen schnell und erfolgreich verwies er die „Gespenster“ der Provinzialität und Selbstbezogenheit des Saales, ohne dass es die Anwesenden merkten.
Rupert Neudeck war nicht nur ein Menschenretter. Er war auch ein Menschenfischer. 2014 und 2015 kam er wiederholt zu Vorträgen nach Dresden und Leipzig. In Radebeul besuchten er und seine Frau Christel Asylbewerber und schlossen Freundschaft mit einem jungen Mann aus dem Irak. „Hilfe zu leisten, ist nicht nur ein Glück für den Empfänger, sondern auch für den Geber“, so sagte er immer wieder.
Rupert Neudeck war, so glaube ich, ein glücklicher Mensch. Er machte kein Gerede von seinem persönlichen Glauben. Viel lieber sprach er in der Gegenwart der „Ossis“ von Albert Camus, dem, wie er sagte, „gläubigsten und selbstlosesten Atheisten, den man sich vorstellen kann“. Ich hatte den Eindruck, dass sich das der Christ und Jesus-Fan Rupert Neudeck zurechtgelegt hatte, um auch die Menschen hierzulande zu erreichen. Es ist ihm gelungen.
Beiträge von Rupert Neudeck im Blog der Landeszentrale:
Ein Besuch an der äußersten Außengrenze Europas auf Lesbos, Oktober 2015
Die afrikanische Migration. Was können wir tun, damit nicht so viele Menschen umkommen, Mai 2014
Video-Porträt zu Rupert Neudeck.
Dieser Beitrag erschien in der Sächsischen Zeitung am 1. Juni 2016.