„Sachsen braucht eine europäische Akademie mit Fokus auf Außen- und Sicherheitspolitik“

„Zeitenwende“? Deutsche Verteidigungspolitik als Leerstelle der politischen Bildung – unter diesem Titel stand die diesjährige Partnerkonferenz der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, die am 8. November 2022 in der Messe Dresden stattfand. Direktor Roland Löffler plädierte in seiner Eröffnungsrede vor rund 100 Teilnehmenden für die Schaffung einer neuen Institution in Sachsen, die Expertise für außen- und sicherheitspolitische Fragestellungen aufbaut – mit speziellem Fokus auf Ost- und Mitteleuropa.

Den Text der Rede in voller Länge können Sie hier nachlesen.


Vor fast genau 25 Jahren, am 2. September 1997, hielt kein Geringerer als der deutsche Bundespräsident Roman Herzog während seines Staatsbesuchs eine Rede in der Russischen Föderation. Der frühere CDU-Minister und Präsident des Bundesverfassungsgerichts war von dem russischen Präsidenten Boris Jelzin eingeladen worden und sprach vor der Staatsduma.

Herzog verstand seinen Besuch und seine Rede als „Ausdruck des historischen Epochenwandels im Verhältnis unserer Nationen“. Die Zeit der Blockkonfrontation mit Wettrüsten sei vorüber, die Teilung Europas überwunden. Herzog dankte im dem russischen Volk für seinen „Großmut und Klugheit“ bei der Unterstützung auf dem Weg zur deutschen Einheit. Die Zeit der Einflusszonen sei vorüber, Kooperation statt Konfrontation, die Zusammenarbeit in multilateralen Partnerschaften stünden auf der Tagesordnung.

Rede von Roman Herzog vor der Staatsduma

Ein zufriedenes, wohlhabendes, in sich ruhendes Russland läge im deutschen Interesse, weshalb wissenschaftliche, kulturelle und vor allem wirtschaftliche Formen der Zusammenarbeit zu fördern seien. Die Bundesrepublik reiche Russland die Hand zum „Freundschaftsgruß“ – und wolle „an der Schwelle zum 21. Jahrhundert in eine neue Ära des friedlichen Miteinanders eintreten.“

Herzogs Rede gipfelte in dem bemerkenswerten Satz: „Handels- und Wirtschaftsaustausch können in der heutigen Weltwirtschaft nicht auf einseitiger Ausbeutung, sondern auf wechselseitigem Vorteil und Vertrauen beruhen. Das gilt für russische Energie- und Rohstofflieferungen, deutsche Spitzenumwelttechnologie oder russische Kernkraftwerke gleichermaßen. Deshalb macht sich Deutschland auch von russischen Erdgaslieferungen abhängig. Das ist ein konkreter Ausdruck unseres Vertrauens in Ihre Politik.“

Vertrauen in Russland

„Wir machen uns von Ihnen abhängig“ – das war also ein Zeichen des Vertrauens, eines historischen Epochenwandels. Man kann Herzogs Rede als die große Hoffnung auf die Friedensdividende der deutschen Einheit und der europäischen Integration lesen, die nicht nur, aber zuvorderst doch aus Wandel durch Annäherung, durch Handel, wissenschaftliche, kulturelle und auch zumindest partiell auch durch militärische Kooperation geprägt sein sollte. Zu Deutschlands erlernter Rolle als europäische Zivilmacht passte eine solche Strategie – und anscheinend sah sich Deutschland in den späten 1990er Jahren als besonders privilegiert an, eine Vermittlerrolle zwischen Ost und West einzunehmen.

Springen wir in unsere Zeit und schauen auf die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vom 27. Februar 2022, also kurz nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine: „Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen – aus einem einzigen Grund: Die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer stellt sein eigenes Unterdrückungsregime infrage. Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, (…) ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen (…). Er zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung, wie sie seit der Schlussakte von Helsinki fast ein halbes Jahrhundert Bestand hatte. Er stellt sich auch ins Abseits der gesamten internationalen Staatengemeinschaft.“

"Zeitenwende": Putins Angriff auf die Ukraine

Daraus leitet die Bundesregierung fünf Handlungsmaximen ab, von der militärischen und finanziellen Unterstützung der Ukraine über Sanktionen gegenüber Russland, die Betonung der NATO-Beistandspflicht, zur Investitionsoffensive für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro bis zum ein Ende einer „naiven Diplomatie“ bzw. hin zu einem robusten Mandat für den Dialog mit Russland und anderen autoritären Staaten im Rahmen der Außenpolitik.

Konträrer könnten die Reden von zwei deutschen Staatsorganen innerhalb von 25 Jahren kaum sein. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der die Annexion der Krim vorausgegangen war, die russischen Interventionen in Moldawien, Georgien und in Syrien vorausgegangen waren, macht die Vorstellung von einer wirtschafts- wie sicherheitspolitischen Balance- und Kooperationspolitik auf lange Zeit zunichte.

Unbequeme Fragen stellen sich deshalb unserer Gesellschaft, unserer Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch der politischen Bildung: Waren wir naiv? War unsere Strategie richtig und ausreichend begründet? Hatten wir überhaupt eine hatten wir überhaupt eine klare außen- und verteidigungspolitische Strategie? Haben wir wirklich Wandel durch Handel betrieben – oder nicht vielmehr Handel und Handel?

Deutschlands Rolle in der Welt

Was sagt das alles über die aktuelle Lage über Deutschlands Rolle in der Welt aus? Wie wird sich die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik in den nächsten Jahren verändern, die ja eigentlich wertebasiert und klimapolitisch ausgerichtet agieren will, nun aber zum Prinzip der Abschreckung zurückkehrt…?

Seit Adenauers Westbindung und Brandts Ostpolitik war die Bundesrepublik Deutschland ein Schrittmacher der europäischen Integration nach Westen und der Entspannung nach Osten. Diese starke Rolle in der Welt verfestigte und vergrößerte sich durch die Deutsche Einheit 1990. Dass diese Position gerade dank des militärischen Abschreckungspotentials der NATO und speziell der amerikanischen Verbündeten erreicht wurde, geriet in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend in Vergessenheit. Der Bonner Politikwissenschaftler Christian Hacke schreibt deshalb:

„Die Rolle der Zivilmacht, des Welthandelsstaates und der Entspannungsvormacht wurde in den Dienst einer freiheitlich demokratischen Zivilisation im atlantischen Maßstab gestellt. Nach der Wiedervereinigung sonnten sich die Deutschen in einem fast historisch zu nennenden Höhepunkt außenpolitischer ‚Unschuld‘.  Doch das Ende des Kalten Krieges markierte nicht das Ende kriegerischer Geschichte, sondern leitete ihre Rückkehr ein. Als wieder Kriege ausbrachen, war Deutschland nicht darauf vorbereitet“, so Hacke kritisch.

Verlässlicher Bündnispartner? 

Die Bundesrepublik wurde deshalb in den letzten drei Jahrzehnten im atlantischen Bündnis nicht selten als unsicherer Kantonist betrachtet. Sie kaufte sich einerseits 1991 vom Ersten Golf-Krieg frei, verweigerte die Teilnahme am Irak-Krieg, aus heutiger Sicht sicherlich eine richtige Entscheidung, enthielt sich bei einer UN-Sicherheitsrats-Abstimmung über eine Flugverbotszone über Libyen. Andererseits engagierte sich Deutschland etwa auf dem Balkon und in Afghanistan, nicht zuletzt auf Druck der NATO-Verbündeten.

Mit den Einsätzen der Bundeswehr „out of area“, also: in internationalen Friedenseinsätzen, in Ausbildungs- oder Stabilisierungsmissionen, im „Kampf gegen den Terror“ verschob sich die Ausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik nachhaltig. Dominierte in der Zeit des Kalten Krieges die Landes- und Bündnisverteidigung, wurde die Verteidigungspolitik nun internationaler und interventionistischer.

Rückblickend stellt sich allerdings die Frage, ob die jeweiligen out-of-area-Einsätze mit strategischem Weitblick geschahen oder aus je spezifischer außenpolitischer Notwendigkeit, etwa zur Befriedung der europäischen und transatlantischen Partner, die dem deutschen sicherheitspolitischen Zögern über Jahre zweifelnd bis kritisch gegenüberstanden. Es sei natürlich auch erwähnt, dass die internationalen Partner selbst ambivalent waren: Manche waren skeptisch gegenüber einer zu starken internationalen Rolle Deutschlands, andere forderten mehr Engagement und vor allem mehr Investitionen.

Wie wird die Bundeswehr wahrgenommen?

Seit fast zehn Jahren widmet sich die Bundeswehr nun gleichzeitig zwei Aufgaben: Sie leistet erstens Out-Of-Area-Einsätze vom Balkan über die Sahel-Zone über das Mittelmeer und den Indischen Ozean bis zur bereits zitierten Mission am Hindukusch. Sie stellt zweitens Truppen zur Bündnisverteidigung in Europa, aktuell speziell in Litauen und der Slowakei. Bundeskanzler Scholz hat in seiner Rede nicht klar gemacht, ob diese Doppelstrategie bleiben oder die Bundeswehr sich auf ein einziges Feld konzentrieren soll. Unstrittig ist: Die Zweiteilung des Einsatzrahmens zehrt an Mensch und Material. Und: Die Bundeswehr hat mit der Abschaffung der Wehrpflicht an Verankerung in der Bevölkerung verloren.

Zwar zeigen Umfragen ein hohes Ansehen der Armee. Sichtbar sind Soldatinnen und Soldaten aber nicht mehr im gleichen Maße im Stadtbild und in der Gesellschaft, wie dies etwa in Westdeutschland vor 1990 der Fall war. Insgesamt befinden wir uns also in einer paradoxen Situation: Je gefährlicher die Einsätze der Bundeswehr international werden, desto distanzierter erscheint das Verhältnis unserer Gesellschaft zu ihrer Armee.

Verteidigungspolitik als Leerstelle der politischen Bildung

Und damit kommen wir zum Ansatz unserer Partnerkonferenz 2022: Auch wir in der politischen Bildung wollen uns hier und heute die Frage stellen, ob nicht auch wir die Debatte über Außen- und Verteidigungspolitik, über die Rolle der Bundeswehr, über unsere Rolle als Bundesrepublik Deutschland in der Welt in den letzten Jahren deutlich vernachlässigt haben.

In den letzten Jahren dominierten andere Themen die Agenda der politischen Bildung. Gerade in Sachsen ging es durchaus sehr kontrovers zu bei Themen wie Migration und Integration, Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Diskriminierung, Extremismus und Populismus. Diese Themen behandeln wir in unserem Sektor mit Recht, weil wir – das müssen wir selbstkritisch konstatieren – als politische Bildnerinnen und Bildner, aber auch als sächsische Gesellschaft diese Herausforderungen keineswegs bewältigt haben. Der menschenverachtende Brandanschlag vor wenigen Tagen auf das als Flüchtlingsunterkunft geplante Hotel „Spreeblick“ in Bautzen ist ein Beispiel für diese gesellschaftlichen Gefahren. Ein Ziel der Bearbeitung innenpolitischer Themenfelder ist deshalb der Aufbau demokratischer Resilienz in der Bevölkerung, etwa durch den Aufbau von Wissen, von Urteils –, Sozial- und Handlungsfähigkeiten.

Mein Eindruck ist aber auch: In der politischen Erwachsenen- und auch Jugendbildung gibt es gerade in Ostdeutschland und Sachsen aber auch erhebliche Defizite, was verteidigungspolitische und außenpolitische Fragestellungen und Netzwerke gibt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin kein Freund des Entweder-Oder, sondern ein Freund des Sowohl-Als-Auch.

Dies gilt auch für die internationalen Beziehungen, zumal dann, wenn sie unmittelbar Einfluss auch auf unsere „sächsischen Verhältnisse“ nehmen. Als Anrainer zu Polen und Tschechien sollten wir in Zukunft stärker als bisher verteidigungs- und außenpolitische Debatten führen. Unsere heutige Partnerkonferenz stellt sich dieser Diskussion und will neue Netzwerke und Ressourcen erschließen.

"Sachsen braucht eine europäische Akademie"

Lassen Sie mich aber auch nach vorne blicken: So wie die Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Bundesverteidigungsministerium im tiefsten Westen der Republik die Bensberger Gespräche ausrichtet, so sollten wir als Partner in der politischen Bildung darüber nachdenken, ein ähnliches Gespräch in Sachsen aufzubauen.

Nach meiner Beobachtung fehlt zudem in unserer breiten und heterogen Trägerlandschaft ein Forum, das es in anderen Bundesländern gibt: Sachsen braucht eine Europäische Akademie, die eine Expertise für außen- und sicherheitspolitische Fragestellungen aufbaut, die speziell einen Fokus für Ost- und Mitteleuropa richtet, die Sicherheitslage und später den Wiederaufbau in der Ukraine verfolgt, den Menschenrechtsorganisationen in Belarus ein Forum bietet und die besonderes Sicherheitsbedürfnisse im Ostseeraum und speziell im Baltikum reflektiert.

Eine solche Institution zu gründen, wäre eine gemeinsame Anstrengung wert. Solange es sie nicht gibt, stellt sich die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung diesen Themen, etwa am heutigen Tag. Ich wünsche uns allen spannende Diskussionen und vor allem neue Kontakte für eine weitere Bearbeitung dieser großen und zukunftsträchtigen Themen.