Wer entscheidet über den Tod?
Herr von Aretin, Herr Roßbruch, Sie beschäftigen sich viel mit der letzten Phase des Lebens. Welches Verhältnis haben Sie zum Tod?
Roßbruch: Ich beschäftige mich schon seit jungen Jahren mit meiner Endlichkeit. Seit ich vor 50 Jahren als Zivildienstleistender auf einer urologischen Station gearbeitet habe. Wir haben nicht nur ältere Patienten betreut, sondern auch junge Menschen, die an Krebs erkrankt waren und im Krankenhaus gestorben sind. Das hat mich sehr beschäftigt. Ich habe viele Gespräche mit diesen Patienten geführt. Das hat mich sehr geprägt. Das Thema hat mich nie wieder losgelassen. Ich habe mich dann als Anwalt auf medizinische und pflegerische Themen spezialisiert. Bis heute setze ich mich täglich auch mit meiner eigenen Endlichkeit auseinander. Das macht mir das Leben bewusster. Deshalb lebe ich sehr intensiv.
von Aretin: Mir geht es ähnlich. Es ist ein alltägliches Thema für mich, nicht nur beruflich. Ich würde sagen, dass ich das Leben ein wenig vom Tode her denke. Das heißt, ich frage mich: Wie lebe ich heute so, damit ich gut sterben könnte? Ich will mir nicht irgendwann vorwerfen müssen: Mensch, was hast du alles nicht getan!
Hat jeder Mensch das Recht, aus freiem Willen sein Leben zu beenden?
von Aretin: Ja, wer sollte ihm das verbieten?
Roßbruch: Das ergibt sich aus Artikel eins unserer Verfassung: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Das Selbstbestimmungsrecht ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Menschenwürde. Deshalb hat jeder Mensch das Recht, sich das Leben zu nehmen, wenn er das möchte, in eigener Verantwortung.
Herr von Aretin, Sie erleben als Mediziner immer wieder Menschen in der letzten Lebensphase. Was ist in solchen Momenten besonders wichtig?
von Aretin: Individuell ist das natürlich verschieden. Ein wichtiger Punkt ist, das Sterben als Teil des Lebens zu betrachten. Es ist für Patienten erleichternd, wenn sie in der Lage sind, das Sterben zu akzeptieren. Und bereit sind, Hilfe auf diesem Weg anzunehmen. Der Patient sollte nicht das Gefühl haben, in einer Maschinerie zwischen die Räder zu kommen. Es geht darum, diesen Weg anzunehmen, mit allen Ratschlägen und Erleichterungen, die Medizin und Gesellschaft zu bieten haben. Gerade in der Palliativmedizin ist es glücklicherweise für uns oft auch eine schöne Erfahrung, wenn Menschen in der Lage sind, sich in die Hände von anderen Menschen zu begeben. Das können sehr berührende Erlebnisse sein.
Roßbruch: Ich bin ein großer Befürworter der Palliativmedizin und von Hospizen, ich plädiere für einen Ausbau, da sind wir in Deutschland noch hinter den Möglichkeiten. Für mich gibt es allerdings keinen Gegensatz zwischen palliativer Versorgung einerseits und begleitetem Freitod andererseits. Das ist für mich kein entweder-oder, sondern ein sowohl-als-auch. Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben bietet Menschen, die bei ihr Mitglied werden, eine Reihe von Leistungen an. Begonnen haben wir vor vielen Jahren mit der Patientenverfügung. Wir waren in Deutschland daran beteiligt, diese gesetzlich zu verankern.
Wir bieten inzwischen auch Beratungen an und Vermittlungen von Freitodbegleitern für Menschen, die sich für einen ärztlich assistierten Suizid entscheiden. Die Altersstruktur unserer Mitglieder ist hoch, in der Mehrheit ab 65 aufwärts. Das sind sehr selbständige, eigenwillige und selbstbestimmte Menschen, die von sich sagen: Ich möchte mir von niemandem reinreden lassen. Es sind Menschen, die sich intensiv mit ihrer Endlichkeit auseinandergesetzt haben. Auch mit den Möglichkeiten der Medizin und den Problemen, die eine intensivmedizinische Behandlung oder Betreuung im Pflegeheim mit sich bringen kann. Das ist für sie keine Option. Es gibt Menschen, die zum Teil erlebt haben, wie Angehörige in Heimen oder Kliniken gestorben sind und diesen Weg nicht für sich wollen.
2020 wurde die Gesetzgebung durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts liberalisiert. Wie haben Sie diese Entscheidung wahrgenommen?
von Aretin: Das Urteil hat stark die Autonomie des Menschen betont, die natürlich auch nicht zur Debatte stehen sollte. Das unterstütze ich völlig, stelle aber gleichzeitig fest, dass der Mensch sich nicht nur über Autonomie definiert. Das Spannende an dem Urteil war auch, dass es in der Liberalisierung weiter geht als Länder wie die Schweiz, die wir vorher ein wenig skeptisch in ihrer für uns recht freizügigen Gesetzgebung betrachtet haben. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass wir uns als Gesellschaft mit so einer Fokussierung auf Autonomie auch Probleme einhandeln könnten. Die Akzeptanz des Sterbeprozesses, des eigenen Leidens, aber auch der angebotenen Hilfe könnte schwieriger werden.
Roßbruch: Ich war damals Bevollmächtigter und Beschwerdeführer bei dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Für mich war klar, dass der Paragraf 217 verfassungswidrig war. Er war ein Systemfehler. Es haben alle beteiligten Juristen damit gerechnet, dass der Paragraf keinen Bestand haben wird. Die sehr liberale Urteilsbegründung hat uns allerdings auch überrascht. Das haben selbst wir nicht für möglich gehalten. So spielt beispielsweise das Motiv für einen assistierten Suizid keine Rolle. Es bedarf keiner schweren Krankheit mehr, sondern jedes Motiv ist zu respektieren. Das finde ich prinzipiell auch richtig, wenn man das Selbstbestimmungsrecht als grundlegenden Wert respektiert.
In der Praxis heißt das, auch das Motiv „Lebenssattheit“ muss bei einem assistierten Suizid akzeptiert werden. Ist das nicht ethisch schwer vertretbar?
Roßbruch: Bei unseren Mitgliedern ist das ein sehr häufiges Motiv. Es gibt alte Menschen, die nicht schwer krank sind und trotzdem sagen, ich möchte nicht mehr leben. Es wird immer mal behauptet, dieser Aspekt des Urteils des Bundesverfassungsgerichts komme einem Dammbruch gleich. Manche fürchten, diese Regelung könnte eine Tendenz zum begleiteten Freitod befördern. Aber das ist empirisch nicht nachweisbar. Bei uns müssen die Mitglieder einen Antrag stellen auf Vermittlung einer Freitodbegleitung. Nach gewissenhafter Prüfung des Antrags stellen wir dann Kontakte zu den jeweils regional tätigen Freitod-Teams her. Wir haben ein hohes Sicherheitskonzept entwickelt. Wenn wir einen Fall prüfen, passiert alles im Vier-Augen-Prinzip. Zu den Teams gehören Psychologen, Ärzte und Juristen. Es werden mehrere Gespräche geführt, auch und gerade um die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit der Antragssteller festzustellen. Dabei wird auch über die Möglichkeiten von palliativer Versorgung gesprochen. Wenn man die Protokolle solcher Gespräche liest, stellt man immer wieder fest, dass diese Menschen sehr bewusst Nein zu den Möglichkeiten unseres Gesundheitssystems und des sich dort vollziehenden Sterbens sagen, weil das selbstbestimmte Sterben für sie etwas Zentrales ist.
Es wird in der Politik über weitere Regelungen für den assistierten Suizid diskutiert, dazu gibt es verschiedene Vorschläge. Was würden Sie verändern?
von Aretin: Da geht es zum Beispiel um Fragen zu Wartezeiten. Man kann diskutieren, ob man Situationen unterscheiden sollte. Ob dieselben Regeln und Verfahrensweisen gelten sollten für einen Menschen, der schwer krank ist und vielleicht ohnehin bald sterben würde, und für jemanden, der 55 ist, quasi gesund, aber eben den Wunsch hat, zu sterben. Die Idee dahinter ist es, einen Irrtum zu vermeiden. Es ist ja unser aller Lebenserfahrung, dass sich Wünsche und Meinungen auch ändern können. Man könnte sich für solche Fälle mehr Schutzkonzepte überlegen. Solche Überlegungen finde ich angemessen.
Roßbruch: Unterschiede zu machen, halte ich für problematisch. Aus meiner Sicht ist es verfassungswidrig, zwei Gruppen zu kreieren. Die einen, die Schwerkranken, haben es leichter, eine ärztliche Freitodbegleitung zu bekommen. Die anderen müssen unter anderem einen Behandlungsmarathon über sich ergehen lassen. Das ist aus meiner Sicht ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Das Bundesverfassungsgericht hat angedeutet, dass es nicht schlecht wäre, wenn ein sogenanntes legislatives Schutzkonzept entwickelt würde, in dem das Verfahren für einen begleiteten Freitod geregelt ist. Es geht dabei nicht um materiell rechtliche Dinge, die sind klar, sondern um Regelungen des Verfahrens. Bei allen vorliegenden Gesetzentwürfen, geht es auch um eine Beratungspflicht. Das halte ich nicht für angemessen. Ein Beratungsrecht, ja, aber keine Beratungspflicht. Es wird dabei auch übersehen, dass viele Menschen, die schwer erkrankt sind, gar nicht zu einer Beratungsstelle gehen können. Man muss also zu den Betroffenen nach Hause gehen und dort eine Beratung vornehmen.
Wie heikel ist es, wenn bei Gedanken an einen Suizid die Angst vor Mängeln im Gesundheitssystem oder in der Pflege eine Rolle spielen?
Roßbruch: Ich glaube nicht, dass das so eine große Rolle spielt. Wir können ein noch so gut ausgebautes Gesundheitswesen haben und eine noch so gute Palliativversorgung, es wird immer Menschen geben, die einen anderen Weg wählen werden.
von Aretin: Ich maße mir nicht an, zu sagen, ob ein Mensch in so einer Situation richtig oder falsch handelt. Aber ich habe ein Unbehagen bei der Frage, inwieweit man dadurch, dass man sich für einen assistierten Suizid entscheiden kann, diese Möglichkeit normalisiert. Patienten könnten sich für einen assistierten Suizid entscheiden, weil Sie anderen nicht zur Last fallen wollen. Wenn ein Patient sich für das Weiterleben entscheidet, wird er für sein eigenes Leid und die Belastung der Anderen mit verantwortlich. Er könnte ja auch anders. Das wäre eine Grundstimmung, die ich nicht möchte.
Können Sie dieses Unbehagen verstehen, Herr Roßbruch?
Roßbruch: Unbehagen kann ich immer verstehen. Für mich ist die Frage: Ist das tatsächlich etwas, das man gesellschaftlich oder empirisch feststellen kann? Das sehe ich nicht. Subjektive Empfindungen hat jeder von uns. Es gab auch schon Fälle, deren Begleitung wir vermittelt haben, bei denen ich ein Unbehagen hatte. Das waren Fälle, bei denen ich dachte, für mich persönlich wäre es keine Situation, in der ich sagen würde: Jetzt möchte ich gehen. Diese Menschen haben es aber so entschieden. Und ich kann meine Perspektive nicht anderen Menschen überstülpen. Ich muss ihre Motive respektieren.
Seit der Liberalisierung der Gesetzgebung gibt es eine Zunahme der Anträge auf assistierten Suizid. Wie erklären Sie sich das?
Roßbruch: In absoluten Zahlen ist die Zunahme extrem gering. 2021 hatten wir 120 vermittelte Freitodbegleitungen, 2022 waren es 227. Die Zunahme ergibt sich auch schlicht aus der Tatsache, dass die Menschen nun wissen, dass es inzwischen diese Option in Deutschland gibt. Viele wären früher in die Schweiz gegangen, wo wiederum eine Abnahme solcher Fälle zu verzeichnen ist. Ich bin froh, dass Menschen nicht mehr ins Ausland fahren müssen. Vor allem schwerkranke Menschen, für die das eine Zumutung war. Insgesamt reden wir über eine sehr geringen Prozentzahl von Menschen, die sich für einen assistierten Suizid entscheiden, im Verhältnis zu insgesamt etwa eine Million Menschen, die jedes Jahr in Deutschland sterben.
Was ist mit Menschen, die nicht mehr selbst entscheiden können, weil sie zum Beispiel an Demenz erkrankt sind?
Roßbruch: Jeder freitodwillige Mensch muss bis zuletzt urteils- und entscheidungsfähig sein. Wenn er das nicht mehr ist, kann er nicht frei verantwortlich einen begleiteten Freitod in Anspruch nehmen. Das ist die Rechtslage in Deutschland und die ist eindeutig.
von Aretin: Wie beurteilen Sie dann die Situation in Holland, wo auch Demenzkranke der aktiven Sterbehilfe zugeführt wurden, die das in dieser Lage nicht mehr selbst beurteilen konnten, aber teils sich sogar gewehrt haben? Entschieden wurde auf Basis einer schriftlichen Festlegung, in der die Patienten vorher ihre Zustimmung gegeben hatten. Gerichte haben das als zulässig entschieden.
Roßbruch: Ich halte das für problematisch. Wobei ich die Hintergründe solcher Fälle nicht genau kenne. Wir prüfen zum Beispiel auch bei der Diagnose Depression genau. Ist eine Depression die Folge einer schweren somatischen Erkrankung, dann ist dies rechtlich unproblematisch. Es ist jedenfalls nicht ungewöhnlich, wenn jemand aufgrund einer jahrelangen, schwer zu ertragenden Krankheit oder Situation depressiv wird. Ist aber die Depression die ursächliche Erkrankung, dann findet bei uns eine Vermittlung für Freitodbegleitung zunächst nicht statt. Wir beauftragen in zweifelhaften Fällen einen Facharzt, der im Rahmen eines Gutachtens die Urteil- und Entscheidungsfähigkeit abklären soll.
Was muss sich beim Umgang mit dem Sterben ändern? Was wünschen Sie sich?
Roßbruch:Ich würde mir wünschen, dass Sterbehilfe-Organisationen obsolet werden. Das würde aber nur passieren, wenn es genügend empathische Ärzte gibt, die die Akzeptanz aufbringen, ihren Patienten auch zu sagen, ich helfe ihnen beim Freitod.
von Aretin: Wenn Sie das so sagen, muss ich an Statistiken denken, die aussagen, dass es einen recht hohen Prozentsatz von Ärzten gibt, die sagen, dass sie schon mal in so einer Situation waren und das Sterben erleichtert haben. Mein Ringen um einen anderen Weg als dem von Sterbehilfe-Organisationen ist dennoch stärker. Es gibt sicher Defizite im Gesundheitswesen, es gibt Raum für Verbesserungen. Aber wir haben sehr viele Möglichkeiten. Ich fände es schade, wenn wir auf Grund solche Annahmen Anreize setzen, sich lieber selbst das Leben zu nehmen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es uns in der Medizin in den allermeisten Fällen gelingt, das Leiden von Patienten erträglicher zu machen und sie auf ihrem letzten Weg gut zu begleiten.
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