Zwickau und der NSU - Wie kritisch soll Erinnerungskultur sein?
Knapp zwölf Jahre sind vergangen, seit in Zwickau die rechtsterroristische Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) aufgeflogen ist. Am 4. November 2011 wurden Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos in Eisenach tot in einem Wohnmobil gefunden. Beate Zschäpe hatte ihre Zwickauer Wohnung angezündet, war auf der Flucht, stellte sich kurz darauf der Polizei und wurde später zu lebenslanger Haft verurteilt. Eine der größten rechtsterroristischen Verbrechensserien der Bundesrepublik wurde bekannt: Das Trio hatte neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin ermordet. Weitere Mordversuche, mehrere Raubüberfülle und Sprengstoffanschläge gehören zu ihren Taten. Geholfen hat ihnen dabei ein großes Unterstützer-Netzwerk.
Die Taten des NSU sind unweigerlich auch mit Zwickau verbunden, hier hatte das Trio lange unerkannt gelebt, in einem beschaulichen Viertel am Stadtrand. Das Haus, in dem sie wohnten, wurde schon vor langer Zeit abgerissen, doch damit ist der NSU nicht abgehakt. Für die Stadt bedeutet das noch immer vieles: Wunden, Trauma und auch Verantwortung – eine Aufarbeitung, die im Gange, aber noch längst nicht beendet ist. Ein weiterer Schritt war nun ein vierteiliger Bürgerdialog. Initiiert wurde er vom Bündnis für Demokratie und Toleranz der Zwickauer Region und vom Zwickauer Rathaus, federführend dabei Oberbürgermeisterin Constance Arndt (parteilos). Die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung übernahm die Moderation und Dokumentation des Dialogs.
Erinnerungskultur 'made in Zwickau'
Das Ziel: Es sollte debattiert werden, wie die Aufarbeitung des NSU und Erinnerungskultur in Zwickau aussehen könnten. Diskussionen darüber gibt es in der Stadtgesellschaft schon lange. Zwickauer Bürgerinnen und Bürger setzten sich auf verschiedene Weise mit dem NSU-Terror auseinander: Zehn am Schwanenteich gepflanzte Bäume erinnern an die Mordopfer. Bei den seit 2012 jährlich stattfindenden „November-Tagen“ werden in Zwickau die Themen Nationalsozialismus, DDR-Unrecht und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit diskutiert. Durch eine Zwickauer Initiative wurden außerdem an mehreren Orten in Deutschland, in denen der NSU Menschen ermordete, Bäume gepflanzt – ein im wahrsten Sinne „wachsendes Gedenken“. Aktuell ist auch der Plan eines NSU-Dokumentationszentrums ein Thema – wie im Koalitionsvertrag der sächsischen Landesregierung verankert. Ob und wie ein Dokumentationszentrum realisiert wird, ist dabei noch ungewiss. Ein Ergebnis dazu sollte der Bürgerdialog nicht präsentieren, sondern Meinungen und Argumente über die in Zwickau gelebte Erinnerungskultur sammeln, verschiedene Haltungen zum Austausch zusammenbringen.
Zu den vier Terminen der Dialogreihe, die im Herbst 2022 begonnen hatte und Anfang März 2023 nun ihren Abschluss fand, waren etwa 60 Menschen aus der Stadtgesellschaft geladen: Vertreter und Vertreterinnen verschiedener Parteien, aus Vereinen und Bündnissen, aus der Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft – der Versuch, einen kleinen Querschnitt der Stadtgesellschaft darzustellen. Um eine „sachliche Diskussion“ zu wahren, habe man einige Menschen mit „extremem Meinungsbild“ nicht zugelassen, erklärt die Oberbürgermeisterin auf Nachfrage eines Anwesenden.
„Eine Frage, die in den Runden immer wieder aufkam, ist: Wie kritisch soll Erinnerungskultur sein?“, fasste Friedemann Brause, Moderator und Referent der Landeszentrale, mit Blick auf das Meinungsbild bei der Veranstaltung am 1. März zusammen. „Darüber muss sich Zwickau aus unserer Sicht verständigen: Wie kriegen wir eine Erinnerungskultur ‚made in Zwickau‘ hin?“ In der Stadt gibt es dazu sehr verschiedene Haltungen: Einige fürchten, eine verstärkte Aufarbeitung und Dokumentation würden das Image von Zwickau beschädigen – die Stadt werde dann zu sehr festgelegt werden auf die Taten der Rechtsterroristen. Andere wollen, dass man sich in Zwickau viel kritischer mit dem NSU-Komplex auseinandersetzt, und halten zum Beispiel das NSU-Dokumentationszentrum für einen geeigneten Ansatz. So entstand an den Dialogabenden ein detailliertes Bild darüber, woran sich Konflikte in Zwickau entzünden, aber auch welche Ideen und konkrete Vorhaben weiter umgesetzt werden sollen.
Sachlich, ruhig, konstruktiv
Der Ton bei der letzten Dialogrunde ist sachlich und zumeist bemerkenswert ruhig. An fünf Tischen, jeweils mit einem knappen Dutzend Teilnehmern und einem Moderator oder einer Moderatorin, werden Vorschläge formuliert: Bildungsarbeit zum NSU ist vielen wichtig, in Schulen und im Theater solle aufgeklärt werden. Einige wünschen sich, dass es mehr personelle Ressourcen dafür gibt, etwa eine zusätzliche Stelle in der Verwaltung, die sich um Bildungsarbeit und Prävention kümmert. Es gibt die Idee, eine Umfrage in Zwickau durchzuführen, um zu erfahren, wie die gesamte Stadtgesellschaft es mit der Erinnerungskultur an den NSU hält. Auch Ausstellungen und Geschichtswerkstätten zum Thema werden als wichtig empfunden.
Die Dialogveranstaltung zieht keinen Schlussstrich. Die Reihe war als Zwischenbilanz gedacht, als Versuch einer Verständigung. Aus Sicht der Initiatoren ist das gelungen. Einen perfekten Zeitpunkt für solche Veranstaltungen gäbe es nicht, sagt Matthias Bley vom Zwickauer Bündnis für Demokratie und Toleranz. In denen letzten Jahren sei darüber schon viel in der Stadt geredet worden. „Nun ist es auch mal Zeit, schwierigere Diskussionen zu führen und verschiedene Lager zusammenzubringen.“ Es freue ihn, wie gut das funktioniert habe. „Überrascht haben mich die vielen Menschen, die drangeblieben sind. Und überrascht hat mich auch der sachliche Diskurs“, sagt Bley. „Es hätte aus meiner Sicht sogar noch ein bisschen kontroverser sein können.“
Dass verschiedene Seiten endlich mal an einem Tisch sitzen, war auch Oberbürgermeisterin Constance Arndt wichtig. „Wenn wir ehrlich sind, war das vorher nicht der Fall“, sagt sie. „Da hat man sich stark mit seiner Haltung in seinem Milieu bewegt, aber es ist eben wichtig, sich alle Seiten anzuhören.“ Ihr Wunsch sei es gewesen, „dass wir uns als Stadt emanzipieren und in eine Debatte begeben“. Nun gab es diesen Austausch, viele Meinungen wurden gehört, Ideen und Wünsche sind aufgeschrieben. Was daraus wird? In Zwickau ist eine weitere Ausstellung zum NSU geplant. Und es wird noch viele Diskussionen zum Plan des NSU-Dokumentationszentrums geben. Um die Aufarbeitung wird weiter gerungen. Klar geäußert wurde von vielen Beteiligten die Bereitschaft, die Gesprächsreihe fortzusetzen.
Ablauf des Dialogprozesses
Ziel: Ideen entwickeln für die Aufarbeitung der NSU-Verbrechen und eine Gedenkkultur für die Opfer rechtsextremer Gewalt.
12. Oktober 2022: Der persönliche Blick - Wie gehen die Menschen in Zwickau mit dem NSU-Komplex um?
Folgende Fragen wurden diskutiert: Warum ist es Ihnen wichtig, sich mit dem NSU-Komplex auseinanderzusetzen? Was können Zwickauerinnen und Zwickauer gewinnen, wenn sie sich mit dem NSU-Komplex auseinandersetzen? Welche Befürchtung haben Sie, wenn es um die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex geht?
15. November 2022: Der Blick anderer - Wie können unterschiedliche Perspektiven zusammengebracht werden?
Einen Input lieferte Prof. Barbara John, Ombudsfrau der Bundesregierung für die NSU-Opfer. An den Tischen wurden folgende Fragen diskutiert: Wessen Perspektiven auf den NSU-Komplex sind mir wichtig? Wie können die verschiedenen Perspektiven und Akteure zusammengebracht werden?
7. Februar 2023: Formen und Anlässe - Wie sollten Erinnerung und Aufarbeitung konkret aussehen?
An den Tischen wurde folgende Frage diskutiert: Wie sollte das Erinnern und Aufarbeiten in Zwickau konkret aussehen? Was braucht es, damit diese Formate gelingen? Dana Schlegelmilch vom RAA Sachsen e. V. stellte den Entwurf einer Konzeption für ein Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex zur Diskussion.
1. März 2023: Abschluss und Würdigung - Wie geht es weiter in der Zwickauer Erinnerungskultur?
Die Teilnehmenden sammelten an den Tischen konkrete Ideen zur Frage: Wer sollte jetzt welche Schritte in der Erinnerungskultur gehen? Die Ergebnisse der Dialogabende wurden diskutiert mit Oberbürgermeisterin Constance Arndt und Matthias Bley vom Demokratiebündnis der Zwickauer Region
Methode: 45 bis 60 Teilnehmende aufgeteilt in Gruppen an fünf Tischen. Die Diskussionen wurden in den Kleingruppen an den Tischen sowie im großen Plenum geführt. An zwei Abenden wurden externe Fachleute für einen Kurzinput eingeladen. Die Diskussionsbeiträge wurden vom Moderationspersonal oder den Teilnehmenden selbst notiert.
Dokumentation der Ergebnisse des Dialogprozesses zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes in Zwickau.