Der DRK Landesverband Sachsen e. V. ist einer von 19 DRK Landesverbänden Deutschlands. Das Deutsche Rote Kreuz ist Teil einer weltweiten Gemeinschaft von Menschen in der internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung, die Opfern von Konflikten und Katastrophen sowie anderen hilfsbedürftigen Menschen unterschiedslos Hilfe gewährt.

Herr Unger, seit 2006 sind Sie der Vorsitzende des Deutschen Roten Kreuz Sachsen, vorher waren Sie dort der Landesgeschäftsführer - wie sind Sie zum DRK gekommen?

Ich habe mich mit 13 in ein Mädchen verliebt und die war junge Sanitäterin. Also habe ich überlegt, wenn ich auch Sanitäter wäre, wäre das doch eine gute Chance, sie näher kennenzulernen. Aus uns beiden ist nichts geworden, aber ich bin beim DRK hängen geblieben. Mein Weg hat dann, so wie bei vielen anderen auch, über das Jugendrotkreuz geführt. Ich war bei den Ausbildern, Blutspender, bei den Katastrophenschützern, auch beim Sanitätsdienst. Allerdings bin ich nie wirklich Rettungsdienst gefahren, aber im Krankentransport habe ich Dienst geleistet.

Was war Ihr Ehrenamt?

Im Ehrenamt bin ich Bereichsleiter geworden für den Katastrophenschutz, ich war aktiv für die Blutspende, für die Ausbildung. Ende 2001 bin ich hauptamtlich zum Landesverband nach Sachsen gekommen, wo ich dann hauptamtlich das Amt des Landesgeschäftsführers übernommen habe.

Wie viele Mitglieder hat das DRK in Sachsen?

In Sachsen haben wir etwa 15.000 aktive ehrenamtliche Mitglieder, etwa genauso viele hauptberufliche Mitarbeiter und etwa 90.000 Menschen, die das Rote Kreuz als Fördermitglieder unterstützen.

Ist es schwieriger geworden, Mitglieder zu gewinnen oder, dank Sozialer Medien, einfacher?

Es ist anders geworden und ja, es ist auch schwerer geworden. Zu der Zeit, als ich mich engagiert habe beim Roten Kreuz, waren die Möglichkeiten und Freizeitangebote nicht ansatzweise so vielfältig. Deswegen war der Weg zum Roten Kreuz vielleicht schneller. Man hat verschiedene Interessen, engagiert sich im Naturschutz, im Tierschutz oder eben auch beim Roten Kreuz. Das Rote Kreuz ist immer ganz nah am Wohnort. Am Ende engagiert man sich in der Bergwacht, in der Wasserrettung oder im Katastrophenschutz. In den letzten Jahren ist es schwer geworden, Menschen zu finden, die sich als eingeschriebene Mitglieder bekennen. Dafür steigt die Zahl vor allem junger Menschen, die sich spontan oder anlassbezogen bei uns engagieren, oder die bei Naturkatastrophen helfen wollen. Bei Hochwassereinsätzen oder im Rahmen der Flüchtlingskrise haben sehr, sehr viele Menschen den Weg zu uns gefunden. Wir müssen lernen, und das fällt uns manchmal schwer, mit diesem spontanen Engagement umzugehen und Menschen dafür Plattformen und Einsatzmöglichkeiten zu geben in Feldern, die für spontane Aktionen passen. Spontan zu beschließen, ich will Rettungsdienst fahren oder Bergretter werden, das geht allerdings nicht.

Was hält die Menschen ab, sich langfristig zu binden an das Rote Kreuz?

Eine Ausbildung zum Rettungsdienst dauert drei Jahre. Bergretter im Ehrenamt - das ist eine Spezialausbildung, das sind mehrere Jahre und viele, viele Stunden Einsatz. Da müssen wir eine Balance finden. Aber soziales Engagement hat heute auch andere Formate.

Welche?

Im Ehrenamt haben wir zwei Säulen: Hochspezialisierte Profis, das sind für mich Wasser- oder Bergretter, Katastrophenschützer mit hochgesteckter Ausbildung. Vor einigen Jahren haben wir außerdem einen eigenen Bereich gegründet, den Bereich Wohlfahrts- und Sozialarbeit. Dort engagieren sich Menschen zum Beispiel in Kleiderkammern oder in Betreuungsarbeit. Natürlich müssen sie da auch ein Stückchen Handwerk mitbringen. Aber viele, die sich da engagieren, haben schon eine Berufsausbildung in diesem Segment absolviert.
Beim letzten Hochwasser 2013 in Sachsen oder während der Flüchtlingskrise gab es sehr viele Menschen, die sich ohne Vorbildung bei uns engagiert haben. Das hat unsere Führungskräfte und Einsatzleiter vor völlig neue Herausforderung gestellt. Wenn man zum Beispiel beim Hochwasser Einsatz plötzlich Hunderte Freiwillige hat, die sich engagieren wollen und man ist es sonst gewöhnt, eine Katastrophenschutzeinheit zu haben, ist das eine große Umstellung. Bei uns ist der Ablauf schon sehr geordnet und funktioniert nach strengen Regularien und Dienstanweisungen. Auf einmal sind da einhundert oder zweihundert Ehrenamtliche, die keine Dienstkleidung tragen, die nicht die Dienststellungsabzeichen des Zugführers erkennen und gar nicht wissen, dass der etwas zu sagen hat. Dann muss dieser Zugführer mit viel, viel mehr sozialer Kompetenz arbeiten. Während der Flüchtlingskrise haben wir sehr schnell lernen müssen, dass es Aufgabenfelder gibt, die wir besser und schneller mit strukturierten Formen wie Katastrophenschutzeinheiten lösen können. Beispielsweise eine Zeltstadt zu errichten, ist schwierig und nicht in vernünftigen Zeiträumen mit Menschen zu schaffen, die es nicht gelernt und trainiert haben. Aber Betreuungsformate zu entwickeln, menschliche Nähe und Wärme zu bringen - da muss ich soziale Kompetenz mitbringen. Dafür muss ich nicht beim Roten Kreuz eine wochenlange Katastrophenschutz-Spezialausbildung absolviert haben.

Gerade im sozialen Bereich führt Engagement nicht selten dazu, dass sich Ehrenamtliche selbst überfordern, dass die Grenzen verschwimmen zwischen das ist jetzt noch Ehrenamt, das ist jetzt schon ein Job, für den es eigentlich eine gute Bezahlung geben müsste. Wo ziehen Sie da die Grenze?

Mir persönlich fällt es schwer, diese Grenze zwischen hauptberuflicher Tätigkeit und ehrenamtlichem Engagement zu ziehen. Zumindest für Leute wie mich und viele meiner Kollegen und meine Mitarbeiter endet der Tag ja nicht mit dem Verlassen des Büros. Man kann diese Tätigkeit nur inhaltlich gut machen, wenn man an das glaubt, wofür Rotes Kreuz nicht nur in Deutschland, sondern weltweit steht. Krisen sind dann einzigartige Phasen. Hochwasser ist das eine, Menschen in Not zu helfen, bei der Evakuierung eines Stadtteils zu helfen, bei einem Bombenfund. Ich kann mich nicht erinnern, dass dann irgendwelche Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen sagen: Ich habe aber jetzt Feierabend. Ich will mich aber gar nicht vergleichen mit den Kameraden, die ehrenamtlich Katastrophenschutz in ihrer Freizeit leisten. Man muss das wirklich lieben und mögen, sonst wird man nicht glücklich beim Roten Kreuz.

Aber grenzt Ehrenamt vor allem im sozialen Bereich nicht selten auch an Selbstausbeutung?

Alle unsere hauptamtlichen wie ehrenamtlichen Führungskräfte tragen da eine hohe Verantwortung. Gerade wenn jemandem die Tätigkeit in den Einsatzeinheiten viel Freude macht, ist die Gefahr hoch, dass diejenigen sich sehr intensiv engagieren. Außerdem fordern wir die Engagierten in akuten Phasen natürlich auch stärker. Da verschiebt man diese Grenzen auch selbst. Wir sind allerdings, was das betrifft, sensibler geworden. Wir schauen genauer hin. Es gibt keine pauschale Antwort darauf. Wir müssen darauf achten, dass Helfende, Mitglieder und Mitarbeitende selbst ein wachsames Auge auf ihre Kraft und Kapazitäten haben. Sicherlich ist das im beruflichen Bereich einfacher, weil es da einen Tarifvertrag gibt und ein Arbeitszeitgesetz. Trotzdem gibt es Zwangslagen: Wenn ich Dienst auf dem Rettungswagen habe und meine Ablösung kommt nicht, was mache ich dann? Es gibt Regularien, aber die Gefahr, dass ein engagierter Retter dann noch ein paar Stunden dran hängt, die ist immer gegeben.

Sie sagten vorhin, um sich bei Ihnen zu engagieren, sollte man unterstützen, wofür das DRK steht. Wofür steht das DRK?

Das Deutsche Rote Kreuz ist Teil der weltweiten Rotkreuz-Bewegung. Wir sind die größte humanitäre Organisation der Welt. Schätzungsweise 13 Millionen Menschen engagieren sich weltweit im Roten Kreuz. Das bedeutet, dass es dort viele, viele, viele Millionen unterschiedlicher Biografien und unterschiedlicher Weltbilder gibt. Das ist innerhalb des Deutschen Roten Kreuz, auch innerhalb des Sächsischen Roten Kreuzes, nicht anders. Wir sind ein Spiegel der Gesellschaft. Wer sich ehrlich im Roten Kreuz engagiert, der muss ein Grundbekenntnis zu Menschlichkeit und Humanität mitbringen. Menschen verändern sich, das eigene Weltbild verschiebt sich. Und das kann eine Herausforderung für das Rote Kreuz sein, wenn das Weltbild nicht zu dessen Grundsätzen passt.

Wie gehen Sie damit um?

Der Umgang mit solchen Verschiebungen oder anderen Weltbildern geht am Ende nur im Kleinen. Wir hatten in den letzten Jahren zumindest in Sachsen keine wirklich großen Probleme damit. Am Ende ist es eine Auseinandersetzung, die Mitglieder vor Ort miteinander führen. Gerade die Flüchtlingskrise 2015/16 hat uns auch sehr verändert, weil uns die Werte des Roten Kreuzes noch einmal bewusstgeworden sind, die wir vorher vor allem theoretisch gelernt hatten.

Welche sind das?

Neutralität, Unparteilichkeit. Ich habe unglaublich viele Bilder im Kopf, Erinnerungen an akute Einsätze, wo wir im Wochentakt neue Flüchtlingsunterkünfte errichten und ausstatten mussten. Nicht alle unserer Helfer im Einsatz fanden diese Situation gut. Die haben sich schon gefragt, wie das alles funktionieren soll, ob die getroffenen Entscheidungen gut sind für unser Land. Am Ende haben sie aber doch hoch engagiert ihren Einsatz gemacht. Manchmal sind Neutralität und Unparteilichkeit sehr praktisch, weil man sich nicht artikulieren muss zu einem Thema. Wir haben nicht zu bewerten, warum jemand in Not kommt, sondern wir haben dafür zu sorgen, dass das nicht noch mehr zum Schaden gereicht. Das ist eine Position, die es uns als Rotes Kreuz manchmal leichter macht. Meine Zweifel lasse ich in diesem Augenblick beiseite. Wir helfen Tätern wie Opfern. Manchmal ist unparteiisch und neutral zu sein auch schwer: Wenn ich vermeintliche Ungerechtigkeit oder Intoleranz erlebe und mich dann nicht artikulieren kann, weil wir als Rot-Kreuz-Helfer nicht bewerten, was stattfindet. Es steht der Mensch im Mittelpunkt. Vielleicht ist es diese DNA, die unsere Organisation so speziell macht.

Sie erwähnten bereits die international gültigen sieben Grundsätze des Roten Kreuzes - welche sind das?

Die heute weltweit gültigen sieben Grundsätze wurden 1965 beschlossen und fanden 1986 Eingang in die Statuten der Liga der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften: Humanität, Neutralität und Unparteilichkeit hatte ich schon erklärt. Universalität heißt, es gibt uns überall. Wir haben die Einheit. Es gibt immer nur eine Rote-Kreuz-Organisation oder den Roten Halbmond, und sie steht allen offen. Der Grundsatz der Freiwilligkeit ist mir sehr wichtig. Niemand darf gezwungen werden, beim Roten Kreuz zu arbeiten. Wir leisten uneigennützige Hilfe ohne Gewinnstreben. Und zuletzt Unabhängigkeit: Die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ist unabhängig.

Sie erwähnten die Flüchtlingskrise 2015/16, die eine große gesellschaftliche Spaltung nach sich zog. Haben Sie Mitglieder im Nachhinein verloren, die festgestellt haben, dass Sie nicht mehr neutral sein konnten?

Mir persönlich ist kein Austritt eines Mitgliedes bekannt. Es wird sicher welche gegeben haben. Auf der anderen Seite sind unglaublich viele Menschen zu uns gekommen, die vorher nichts mit dem Roten Kreuz zu tun hatten und die uns bis heute als Mitarbeitende und Engagierte unterstützen. Wir hatten interessante Begegnungen mit Menschen, die gesagt haben: Ich würde zwar nicht unbedingt Mitglied im Roten Kreuz werden, aber wenn ihr mich braucht, könnt ihr mich anrufen.

Solche Geschichten verbreiten sich gerade in Krisenzeiten schnell in den sozialen Medien und motivieren andere. Wie werben Sie Mitglieder, wenn keine Krise ist?

Wir gehen da sowohl traditionelle als auch hoffentlich moderne Wege. Menschen anzusprechen ist eine sehr individuelle Geschichte. Deswegen ist Jugendarbeit wichtig. Kontakt zu Kindern und Jugendlichen an Schulen, in Jugendclubs zu finden ist eine unserer wesentlichen Säulen. Da müssen wir uns in Zukunft noch stärker engagieren, um uns auch demografischen Faktoren entgegenzustellen, auch wenn die Zahl der aktiven Mitglieder im Roten Kreuz in den letzten Jahren in Sachsen deutlich langsamer gesunken ist, als die Bevölkerungszahl. Es muss uns also gelungen sein, uns ein Stückchen gegen den Trend zu stemmen. Neue Medien sind in den letzten Jahren auch für uns ein Thema geworden. Da sind wir noch lange nicht dort, wo wir sein könnten, auch wenn wir auf Instagram und Facebook schon eine sehr erfreuliche Entwicklung nehmen.

Wie gehen Sie derzeit mit der Corona-Krise um? Die Vorgaben, um die Pandemie einzudämmen verlangen Abstand und Zurückhaltung, nicht Nähe.

Gerade in der Corona-Pandemie haben wir einen neuen Zugang zu den Menschen gefunden. Wir haben Online-Tools angeboten, die innerhalb weniger Tage in Betrieb genommen wurden. Tausende Menschen haben sich innerhalb weniger Tage auf diesen Online-Plattformen registriert und Seminare online absolviert. Wir haben da noch gewaltige Potenziale.

Würden Sie sagen, das DRK ist systemrelevant?

Mich hat vor kurzem jemand gefragt: Was würde fehlen, wenn es das Rote Kreuz nicht gäbe? Es würde genau dieser Teil einer weltweiten Identität fehlen. Jeder Staat und jede Regierung sollte sehr wachsam darauf achten, dass die sieben Grundsätze des Roten Kreuz geschützt bleiben. Wir sind im Moment 192 Rot-Kreuz-Organisationen weltweit und alle völlig verschieden. Trotzdem eint uns ein Geist. Systemrelevanz heißt für uns: Wir müssen auch dann arbeiten können und wollen auch dann arbeiten, wenn der Ordnungsrahmen nicht mehr gewährleistet ist. Deswegen befinden wir uns in dieser Balance zwischen Selbstständigkeit und Teil eines Staatsgefüges, eines Systems zu sein.

Wie kann der Staat Sie in diesem Anliegen unterstützen?

Ich wünsche mir eine andere Unterstützung vom Staat. Ich möchte, dass der Staat uns unsere Arbeit ermöglicht und Freiräume gibt. Wir erleben allerdings ein hohes Maß an regulierenden Eingriffen. Zum Beispiel: Es engagieren sich Tausende Menschen, auch in Sachsen, ehrenamtlich im Roten Kreuz, im Zivil-, Bevölkerungs- und Katastrophenschutz. Das wird staatlich unterstützt. Wir bekommen unter anderem Fahrzeuge, die staatlich finanziert sind, damit wir uns engagieren können. Gleichzeitig haben wir kommunale Behörden, die verbieten, dass wir an die Fahrzeuge “Deutsches Rotes Kreuz” schreiben. An Fahrzeuge, die wir zur Ausübung dieses Ehrenamtes zur Verfügung stellen und für die wir auch erhebliche eigene Kosten tragen müssen. Aber es ist nicht einfach ein Logo. Es ist das weltweit bekannteste Zeichen für unser Engagement. Das macht mich wütend und fassungslos. Ich kann nicht verstehen, welches Anliegen dahintersteht, einem Menschen seine ehrenamtliche Identität zu nehmen.