Herausbildung eines Mehrparteiensystems
Während der 40-jährigen Geschichte der DDR existierte formal zwar eine parlamentarische Demokratie, gleichzeitig war der Führungsanspruch der SED auf Verfassungsebene festgeschrieben, andere Parteien wurden entweder nicht zugelassen oder aber so stark eingeschränkt, dass sie letztlich nur die Rolle eines „Feigenblattes“ im Einparteiensystem der DDR einnahmen. Die Volkskammer, das oberste Parlament des Staates, hatte insofern auch nur die Funktion eines Kommunikationskanals für die SED, was nicht zuletzt durch das Fälschen von Wahlergebnissen erreicht wurde.
Das kommunistische System nach sowjetischem Vorbild basierte vor allem auf der Deutung der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels durch Wladimir Iljitsch Uljanow („Lenin“).
Stark verkürzt wiedergegeben gingen Marx und Engels schon im 19. Jahrhundert davon aus, dass der Kapitalismus sich selbst abschaffen würde, weil das Gewinnstreben der Unternehmerklasse („Bourgeoisie“) automatisch zur massenhaften Verelendung der arbeitenden Klasse („Proletariat“) führe. Eine Revolution würde demnach in dem Moment ausbrechen, in dem sich die Arbeiterklasse ihrer Unfreiheit bewusst würde. Die marxistische Theorie gewann schnell an Zulauf, jedoch waren die Nachfolger von Marx und Engels uneins über die Art und Weise, in der sich die Revolution vollziehen solle. Während einige, wie beispielsweise Karl Kautsky oder Rosa Luxemburg, eine demokratische Form des Kommunismus anstrebten, sahen andere in der Demokratie ausschließlich die Verschleierung der Ausbeutung der arbeitenden Schicht durch das Besitzbürgertum.
In diesem zweiten Sinne interpretierte auch Lenin die Rolle der Parteiendemokratie, der als Führer der „Bolschewiken“ im Jahr 1917 nach einer gewalttätigen Revolution an der Spitze der neugeschaffenen Sowjetunion stand. Im sowjetischen Modell soll sich eine Partei also nicht in Wahlkämpfen als Alternative zu anderen Parteien anbieten: Weil es nach leninistischem Verständnis keine bürgerliche Demokratie geben kann, die einen anderen Zweck als die Ausbeutung der Arbeiterschaft verfolge und Parlamentarismus sowie Parteienvielfalt nur ein „Schauspiel“ darstelle, bestehe legitime Politik allein im Durchführen der proletarischen Revolution. Deshalb bedarf es im Kommunismus auch keiner Parteienvielfalt, da nicht-kommunistische Parteien die Politik der Revolution nur zu behindern versuchten.
Kommunistische Parteien haben also nicht primär zum Ziel, zu Wahlen anzutreten, sondern vielmehr den Zweck, den Vollzug der Revolution aufrechtzuerhalten, also letztlich den realsozialistischen Staat auf allen Ebenen zu stabilisieren. Die wichtigsten Funktionen der Staatspartei im Realsozialismus besteht daher darin, aus der Bevölkerung Personal zu rekrutieren, welches ideologisch geschult und im Anschluss als Funktionäre in Staatsämter geführt werden kann ("Kaderpartei") sowie das zentrale Machtzentrum zu bilden, sodass alle wichtigen Ämter und Personen im Staat durch die Parteiführung kontrolliert werden können.
Im Zuge der Friedlichen Revolution richtete sich ein großer Anteil des Protestes entsprechend auch gegen den autoritären Aufbau der DDR, freie Wahlen gehörten ebenso zum Forderungskatalog der Demonstrierenden wie die ungehinderte Arbeit der parlamentarischen Opposition. Nachdem durch die Ereignisse der Friedlichen Revolution das Abhalten freier und unverfälschter Wahlen auch durch die SED nicht mehr zu verhindern war, einigten sich alle Vertreter der Partei und der oppositionellen Gruppen auf eine Vorverlegung der eigentlich für Mai 1990 geplanten Volkskammerwahlen, welche nun am 18. März stattfand.
Die Erosion der SED-Herrschaft war zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschritten, sodass sich die ehemaligen Blockparteien (vor allem CDU und LDPD) von ihrer unterstützenden Funktion lösen konnten, während es anderen Bündnissen erstmals möglich war, überhaupt an Wahlen teilzunehmen. Die in den Volkskammerwahlen des Jahres 1990 bestimmten Abgeordneten hatten dabei schon absehbar die Aufgabe, die Abwicklung der bereits durch die Bevölkerung nicht mehr anerkannten DDR-Institutionen zu gestalten. Gleichzeitig galt es, mit den für die Friedliche Revolution hauptverantwortlichen Bürgerrechtsgruppen in Dialog zu treten, um die Zukunft einer reformierten DDR oder aber die Wiedervereinigung mit der Bundesrepublik zu organisieren.
"Allianz für Deutschland" Sieger der ersten freien Volkskammerwahlen
Im Wahlkampf orientierten sich die ehemaligen Blockparteien an ihren westdeutschen Pendants (CDU und FDP) und wurden von diesen auch unterstützt. Dadurch sowie aufgrund ihrer bereits bestehenden Ressourcen hatten die ehemaligen Blockparteien gegenüber den aus der Bürgerbewegung hervorgegangen Parteien wie auch der Ost-SPD einen Startvorteil, den sie für die Wahlen nutzten. Hinzu kam die sich wandelnde Stimmung innerhalb der Bevölkerung: Während die Bürgerrechtsbewegungen vor allem an der Vorstellung eines demokratisch reformierten, aber neben der BRD souverän bestehenden sozialistischen Staates festhielten, befürworteten immer mehr Wählerinnen und Wähler den Beitritt zur BRD, welcher zum Zeitpunkt der Massendemonstrationen noch eine untergeordnete Rolle gespielt hatte.
Am 18. März 1990 fanden die vorverlegten Volkskammerwahlen nach demokratischen Prinzipien statt. Als Sieger ging das Bündnis "Allianz für Deutschland" aus Ost-CDU, Demokratischer Aufbruch (DA) und Deutsch Sozialer Union (DSU) mit über 48 Prozent der Stimmen hervor. Die ehemalige LDPD erzielte knapp fünf, die neugegründete Ost-SPD 22 Prozent. Die anderen Bürgerrechtsparteien, die sich zu einem Bündnis zusammenschlossen, erreichten nicht einmal fünf Prozent. Die einstige SED (nunmehr PDS) erhielt 16 Prozent. Die Kommunalwahlen im Mai bestätigten die Ergebnisse weitgehend.
Bildung einer Übergangsregierung
Im Angesicht der bevorstehenden Aufgaben erschien es ratsam, eine lagerübergreifende Koalition zu bilden, damit einerseits alle neugewählten Kräfte Einfluss auf die enormen Richtungsentscheidungen nehmen könnten, andererseits würde es dafür immer wieder auch eine verfassungsändernde Mehrheit von zwei Dritteln benötigen. Die SED/PDS wurde dabei außen vorgelassen, da eine erneute Regierungsbeteiligung der Partei im Anschluss an die jahrzehntelange Alleinherrschaft aus demokratischen Gesichtspunkten nicht denkbar war. So bildete sich eine Koalition aus "Allianz für Deutschland", SPD und den Liberalen, welche Lothar de Maizière (CDU) zum Ministerpräsidenten (Regierungschef) wählte.
Die Aufgaben des Parlaments und der Regierung waren zahlreich und anspruchsvoll. Es galt, zahlreiche Verfassungs- und Gesetzesänderungen in kürzester Zeit auszuarbeiten und umzusetzen. Gleichzeitig verringerte sich aufgrund der sich verschärfenden wirtschaftlichen Notlage der Handlungsspielraum der neugewählten Vertreter. Hinzu kamen Stasi-Enthüllungen, wie die des Deutscher-Aufbruch-Vorsitzenden Wolfgang Schnur oder des Ost-SPD-Vorsitzenden Ibrahim Böhme, die für Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber den neuen politischen Kräften sorgte. Insgesamt gelang es nur mühsam, alte Seilschaften in Politik, Wirtschaft und Verwaltung zu überwinden.