Ein T-Shirt mitgehen lassen, Schwarzfahren oder Hauswände beschmieren. Für solche Taten werden Jugendliche oft anders bestraft als Erwachsene. Warum eigentlich? Ein Interview mit Jugendrichterin Nicola Lindner.
In Deutschland gibt es tausende Gesetze und Vorschriften. Wofür das alles?
Das ist notwendig, um unser Zusammenleben zu regeln. Ich gebe ein Beispiel: Wenn ich ein Spiel kaufe, zum Beispiel Monopoly, dann gibt es dazu auch immer eine Anleitung, die genau erklärt, wie das Spiel funktioniert. Nur wenn ich die gelesen habe, kann ich spielen. Und wer sich nicht an diese Regeln hält, fliegt raus. In einer Gesellschaft ist das nicht wirklich anders.
Auch Jugendliche begehen Straftaten. Warum werden die anders bestraft als Erwachsene?
Im Jugendstrafrecht ist es nicht unsere Aufgabe, Jugendliche zu bestrafen, sondern sie zu erziehen. Wir versuchen, sie in die richtige Richtung zu lenken. Denn Jugendliche begehen oft Straftaten, weil sie Probleme haben – Geldprobleme, Probleme Zuhause oder in der Schule. Orientierungslosigkeit spielt dabei eine große Rolle. An diesem Punkt können wir einhaken und sie beispielsweise zur Schuldnerberatung schicken oder andere Maßnahmen treffen, die ihnen weiterhelfen.
Ist es nicht besser, die Täter gleich ins Gefängnis zu stecken, damit sie eine spürbare Folge haben?
Das wäre eine unverhältnismäßige Antwort auf das Fehlverhalten des Täters oder der Täterin. Wenn ich die Hausaufgaben nicht gemacht habe, dann fliege ich ja auch nicht gleich von der Schule. Ich werde erstmal ermahnt, in Zukunft die Hausaufgaben zu machen.
Als Richterin sprechen Sie das Urteil. Wie entscheiden Sie, wer welche Strafe bekommt?
Ich schaue mir den Fall genau an und wäge Positives und Negatives miteinander ab. Hat der oder die Angeklagte ein Geständnis abgelegt und deutlich gemacht, dass es ihm oder ihr ehrlich leid tut? Gab es eine Entschuldigung beim Geschädigten? Positiv ist natürlich auch, wenn es die erste Straftat war. Auch die persönlichen Umstände und die Höhe des Schadens spielen eine Rolle. Negativ ist, wenn jemand schon mehrmals vor Gericht stand und alles, was wir versucht haben, nichts gebracht hat. Und wer in einer Verhandlung zu lässig auftritt, gibt auch kein wirklich gutes Bild ab.
Sie sind wie eine Fußball-Schiedsrichterin und müssen alle fair behandeln. Ist das schwierig?
Nein! Ich nehme mir die Gesetzesbücher und wende sie an. Was ich persönlich von jemandem denke, ist dabei völlig egal und darf keine Rolle spielen. Daher haben Richter auch eine Robe an. Sie entscheiden nicht als Individuum, sondern als Organ der Rechtspflege.
Urteile sind manchmal sehr unterschiedlich. Glauben Sie, dass Recht gerecht sein kann?
Es gibt Fälle, in denen der gleiche Tatbestand zu völlig unterschiedlichen Rechtsfolgen führt. Das liegt daran, dass die Lebenssituation der Täter oft sehr unterschiedlich ist und man sie nicht miteinander vergleichen kann. Daher empfehle ich, nie ein Urteil zu fällen, wenn man nicht wirklich die Gesamtumstände kennt.