Die Sache mit der Macht
Von MARKO MARTIN
Wohl kaum ein Wort schillert so ambivalent wie die Vokabel „Macht“. Erinnerungen an Aufmarschplätze und Tribünen werden wach - oder auch an „die dunkle Seite der Macht“ aus Star Wars. In der verallgemeinernden Rede über „die da oben“ lebt überdies bis heute eine Skepsis fort, die es freilich mitunter nicht allzu genau nimmt.
Dabei wird „Macht“ in Demokratien fundamental anders ausgeübt als in Diktaturen. In freiheitlichen Gesellschaften gilt das Prinzip institutioneller Kontrolle und Gewaltenteilung – nicht zufällig heißt es im Englischen „balance of power“. Staats- und Regierungsämter sind Resultat freier Wahlen und als solche zeitlich begrenzt, darüber hinaus sorgt das Wechselspiel zwischen Legislative, Exekutive und Judikative für eben jene „Balance“, ohne die eine repräsentative Demokratie undenkbar wäre. Hinzu kommen Kontrollmechanismen wie etwa die gesetzliche Möglichkeit einer Verwaltungsklage, um eventueller Ämterwillkür einen Riegel vorzuschieben.
Gewiss, das ist kein perfektes, sondern ein immer wieder neu zu verteidigendes und sensibel zu justierendes System. Es hilft jedoch – und das ist nicht wenig - ein Höchstmaß an individueller und gesellschaftlicher Freiheit zu garantieren. Auch ist es ziemlich ermutigend und nicht zu unterschätzen, wie viel positive Energie im Lauf der Geschichte auf eine solche Einhegung der Macht verwendet wurde. Mit zu verdanken ist das nicht zuletzt auch jenen Schriftstellern und Autorinnen, die Opfer und Zeugen totalitärer Machtausübung geworden waren – vor allem im 20. Jahrhundert. In ihren Büchern beschrieben sie eine schreckenerregende Realität, die für uns inzwischen Vergangenheit sein mag, jedoch in modifizierter Form fortdauert in den gegenwärtigen Diktaturen und Gewaltregimes von China über Afghanistan bis Russland und Belarus.
Es ist deshalb von mehr als lediglich historischem Spezialinteresse, diese tapferen Menschen und ihre Bücher wiederzuentdecken. Überdies waren viele von ihnen nicht nur „Ketzer“ gegenüber einer einzigen Ideologie. So hatte z.B. der 1911 in Brünn geborene und 2006 in London verstorbene jüdisch-deutsch-tschechische Schriftsteller Fritz Beer bereits in den dreißiger Jahren mit der stalinistischen Kommunistischen Partei gebrochen, ehe er dann im Zweiten Weltkrieg in der Uniform der britischen Armee gegen das Naziregime kämpfte. Zu jener Zeit stand auch der 1913 in Chemnitz geborene Helmut Flieg im Kampf gegen den Nationalsozialismus – als US-Sergeant Stefan Heym, der späterhin in die DDR übersiedelte und dort bald mit der SED in Konflikt geriert. Gänzlich widerspruchsfrei war seine Entwicklung indessen nicht – was jedoch den Rang von Heym, u.a. Verfasser des bis heute relevanten machtkritischen Romans „Der König David Bericht“ nicht etwa schmälert, sondern diese Biographie zusätzlich interessant macht.
Das gleiche gilt für die Bücher der Antinazi-Emigranten Hilde Spiel, Friedrich Torberg, Hermann Broch und Hans Habe, die bis 1989 vor allem in Westdeutschland bekannt waren – und heute quasi „gesamtdeutsch“ etwas in Vergessenheit geraten sind. Zu Unrecht, da all diese Zeugen einer gewalttätigen Zeit nicht allein spannende, klug reflektierte und deshalb bis heute eminent lesbare Romane und Erinnerungen hinterlassen haben, sondern auch ganz aktuell unser Bewusstsein schärfen können – für die aktive Ablehnung von Machtmissbrauch und für ein Engagement innerhalb unseres demokratischen Gemeinwesens. Es warten faszinierende Entdeckungen.
Marko Martin, geb. 1970 in Burgstädt/Sachsen und aufgewachsen in Limbach-Oberfrohna und Wechselburg an der Mulde, verließ nach politisch motiviertem Hochschul- und Ausbildungsverbot im Mai 1989 als Kriegsdiensttotalverweigerer die DDR und lebt heute, sofern nicht auf Reisen, als freier Schriftsteller in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen, darunter literarische Tagebücher zu Tel Aviv, Havanna und Hongkong sowie in der von Hans Magnus Enzensberger gegründeten Anderen Bibliothek die Erzählbände „Schlafende Hunde“, „Die Nacht von San Salvador“ und den Essayband „Dissidentisches Denken“. „Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht“ erschien Ende Februar 2023 im Arco Verlag und ist eine Art Fortsetzung des Dissidenten-Buchs.
Aufzeichnungen der Veranstaltungen
Als "Ketzer " bezeichnete man im Mittelalter Menschen, die einen vermeintlichen religiösen Irrglauben zur Schau trugen. Sie wurden verfolgt und mussten ihre Meinung oft mit dem Leben bezahlen. In der frühen Neuzeit endeten diese Exzesse weitgehend, der Begriff wurde aber weiterhin abfällig gebraucht und auf jede Art von dissidentisches Denken und Handeln übertragen, völlig unabhängig von Religion. Heute definiert der Duden (den Begriff) Ketzer als "Mensch, der in einer bestimmten Angelegenheit für gültig erklärten Auffassung öff. widerspricht".
In der Veranstaltungsreihe lies der Schriftsteller Marko Martin auf äußerst kurzweilige und berührende Art und Weise Autorenkolleginnen und -kollegen lebendig werden, die seiner Ansicht nach zu wenig gehört wurden und die unsere gegenwärtigen Debatten bereichern und weiten können.
Es handelst sich dabei nicht um Wirrköpfe, sondern um luzide - also erhellende, lichtreiche Mahner - denen es nicht um sich selbst ging, sondern die sich um ihre Gesellschaft sorgten. Ob Stefan Heym, Primo Levi, Anna Seghers oder Friedrich Torberg - Marko Martin hat ihre Literatur neu gelesen und dabei beunruhigende, aber auch erhellende Parallelen entdeckt.
Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht (1/8)
Stefan Heym - Jahrhundertzeuge und Chronist der Machtkritik.
Wie der 1913 in Chemnitz geborene Autor im amerikanischen Exil zum Romancier wurde - und später dann in der DDR Bücher wie "König David Bericht" schrieb, die eindringlich erzählen von den Möglichkeiten und Gefahren des Widerstehens.
08.02.2023, 18:00–18:45 Uhr
Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht (2/8)
Anna Seghers - Trotz fortgesetzter Parteigläubigkeit: Welche Neugier auf die Welt!
Wie Anna Seghers ihre Exil-Erfahrungen auch späterhin fruchtbar machte und über das Menschheitsverbrechen der Sklaverei ihre "karibischen Erzählungen" schrieb. Höchste Zeit für eine Wiederentdeckung.
14.02.2023, 18:00–18:45 Uhr
Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht (3/8)
Fritz Beer: Von Brünn nach London.
Szenen eines widerständigen Jahrhundert-Lebens. Wie ein jüdisch-mährischer Autor in deutscher Sprache davon berichtet, wie er in den dreißiger Jahren mit dem Stalinismus brach, im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler kämpfte - und bis in unsere Zeit hinein versuchte, jüngeren Generationen etwas Entscheidendes zu vermitteln.
22.02.2023, 18:00–18:45 Uhr
Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht (4/8)
Alice Rühle-Gerstel: Dresden. Wien. Prag. Und Mexico-City.
Zur Wiederentdeckung einer außergewöhnlichen Frau, die als Individualpsychologin und Schriftstellerin ihr Leben der politischen, aber auch der seelischen Befreiung gewidmet hatte.
01.03.2023, 18:00–18:45 Uhr
Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht (5/8)
Friedrich Torberg: Mehr als nur ein Humorist und Grantler.
Tief verwurzelt in der literarischen k.u.k.-Tradition, lehrt der kämpferische jüdische Antinazi und Antikommunist, dass auch Witz und Sprachgefühl Instrumente der Machtkritik sein können
08.03.2023, 18:00–18:45 Uhr
Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht (6/8)
Hilde Spiel: Welche Welt ist meine Welt?
Die "Grande Dame der österreichischen Literatur" hatte als Verfolgte und Exil-Heimkehrerin lebenslang am eigenen Leib erfahren, wie brüchig politische und gesellschaftliche Gewissheiten sein können - ein eindringliches Lehrstück für heute.
15.03.2023, 18:00–18:45 Uhr
Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht (7/8)
Hans Habe: Hitler- und Stalingegner zugleich - und quecksilbrig streitbarer Romancier.
An Hans Habe schieden sich in der alten Bundesrepublik die Geister: Ein durch und durch unabhängiger Geist wäre nun wiederzuentdecken.
22.03.2023, 18:00–18:45 Uhr
Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht (8/8)
Leo Lania: Willy Brandts Biograph aus Charkiw.
Über ein Jahrhundertleben und existentielle Erfahrungen von Brüchen und Verwerfungen, die gerade heute wieder aktuell sind.
05.04.2023, 18:00–18:45 Uhr