Keiner muss kommen, jeder darf kommen, alle sind eingeladen
Zum Verständnis: Die Veranstaltungen der Landeszentrale werden freiwillig besucht. In vielen Fällen, so auch am 7. Juli, wird eine Teilnahmegebühr kassiert. Keiner muss kommen. Jeder darf kommen. Alle sind eingeladen. Die Veranstaltungen werden auf der Homepage angezeigt. Über Thema und Referenten und oft auch über den vorgesehenen Ablauf wird im Vorfeld informiert.
Eine Politikerin stellte in ihrem Referat fest, dass das gewählte Veranstaltungsformat ungeeignet sei, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Das verblüffte mich. Sie war lange vor der Veranstaltung über die Referenten, den Ablauf und sogar über den Inhalt der Ansprachen in Kenntnis gesetzt worden. Sie hätte monieren können. Sie hätte einen Vorschlag unterbreiten können, wie man es besser macht. Sie hätte zu Hause bleiben können.
Als ich die drei „zornigen alten Männern“, die engagierten, die mit der Politik unzufriedenen und dennoch nicht resignierten Männer darum bat, ihre Referate eine Woche vorher zuzusenden, damit ich sie rechtzeitig an die zur Gegenrede eingeladenen Politiker weiterleiten könnte, erwiderte mir einer: „Das ist ja wie in der DDR.“ Ich antwortete ihm: „Nein, es ist nicht wie in der DDR. Sie dürfen sagen, was Sie denken. Natürlich stößt diese Freiheit auch in der Demokratie auf Grenzen. Ich gehe davon aus, dass Sie sich weder menschenfeindlich, rassistisch noch antisemitisch äußern möchten. Ich gehe davon aus, dass Sie nicht beabsichtigen, das Volk zu verhetzen. Ich bitte Sie um Zuleitung Ihres Manuskripts aus einem einzigen Grund. Die zur Gegenrede eingeladenen Politiker sollen die Möglichkeit haben, sich gründlich und sachorientiert vorzubereiten.“
Gesagt, getan. Hans E. Gollan-Müller, Alexander Haritonow und Lothar Wilczek schickten mir ihre, für die Länge von 10 Minuten konzipierten Reden. Deren Themen: „Reintegration als soziale Form der Integration“, „Mehrere Perspektiven auf die Ereignisse in der Ukraine“ und „Die Beachtung religiöser Unterschiede bei der Unterbringung von Asylbewerbern“. Ich schickte sie weiter an Steffen Flath (CDU), Dr. Karl-Heinz Gerstenberg (Bündnis 90 / Die Grünen), Hanka Kliese (SPD), Kerstin Köditz (Die Linke) und Frauke Petry (AfD). Diese reagierten auf die zugesendeten Manuskripte nicht.
Volksanhörung?
Michael Bartsch bezeichnet die Veranstaltung in seinem Blogbeitrag „Zornige alte Männer, die andere zornig machen“ als Volksanhörung. Abgesehen davon, dass es nichts schadet, das Volk anzuhören – gerade in Zeiten, in denen das Vertrauen vieler Menschen in „die Politik“ verloren gegangen ist – war die Veranstaltung am 7. Juli ganz gewiss keine Volksanhörung. Den Ansprachen dreier Herren, die sich drei Themen widmeten, die in der aktuellen Diskussion stehen, folgten vier Referate von prominenten Landespolitikern. Der geplante Vortrag von Frau Köditz (Die Linke) - er wäre der fünfte Vortrag eines Politikers gewesen - musste ausfallen. Frau Köditz hatte sich kurzfristig aus gesundheitlichen Gründen entschuldigt. Am Ende der Veranstaltung resümierten Professor Patzelt und Professor Rehberg und setzten Kontrapunkte in alle Richtungen.
Sollte man eine so aufgebaute Veranstaltung als Volksanhörung bezeichnen? Nein. Einige Teilnehmer beschwerten sich bei mir, dass sie nach den Reden der Politiker kaum Zeit hatten, selbst ans Mikrofon zu treten. Bei früheren Veranstaltungen richtete sich die Kritik darauf, dass der informative und der politische Teil zu knapp ausgefallen und den Ansprachen der Teilnehmer aus dem „Volk“ zu viel Raum eingeräumt worden wäre. Also was? Könnte es sein, dass es nach wie vor an Beidem mangelt, sowohl an der Möglichkeit und Fähigkeit, die eigene Position vorzutragen und sich einer offenen Diskussion zu stellen, als auch an der Möglichkeit und Fähigkeit, Informationen und kontroverse Meinungen anzuhören und abzuwägen?
Könnte es sein, dass sich die Veranstaltung am 7. Juli angesichts dieses Mangels und in der Hitze des Gefechts schlicht zu viel vorgenommen hat. Ja. Die Gesellschaft ist politisiert. Es existiert nach wie vor ein großer Bedarf an Informationen und an politischen Auseinandersetzungen. Wir brauchen nicht weniger, wir brauchen mehr Veranstaltungen dieser Art. Wer den Königsweg kennt, den Weg, der dahin führt, dass einerseits möglichst viele Menschen aus dem Volk einbezogen werden, viele Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, und es andererseits genug Raum gibt für präzise Information und politischen Streit, den bitte ich um Nachricht.
Wie hart und wie emotional dürfen die Auseinandersetzungen sein?
In den politischen Auseinandersetzungen kommen, wenn sie denn stattfinden, nach wie vor starke Emotionen zum Ausbruch. Dass der eine oder andere Besucher am 7.7. über Ausmaß und Schärfe erschüttert war, ist bezeichnend. Wer in Dresden immer noch nicht gemerkt haben sollte, wie viele Emotionen im Spiel sind und wie sehr sie andernorts überborden, dem empfehle ich, eine von der Landeszentrale moderierte Veranstaltung zum Thema Asyl in Chemnitz, in der Lausitz oder in Freital zu besuchen.
Meine Kollegen und ich haben gelernt, falls sie es nicht schon vorher wussten, dass man dort mit dem auf den Fluren der Ministerien und des Landtags gepflegten Deutsch nicht weiter kommt. Dort sollte man eine Sprache sprechen, die auch Handwerker, Hartz4-Empfänger und Stahlwerker verstehen. Natürlich entschuldigt dieser Hinweis niemanden, der politisch Andersdenkende diffamiert.
Aber bitte: Haben wir Zwischenrufe wie „Aufhören!“ oder „Mikrofon abstellen!“ nicht auch schon in deutschen und sächsischen Parlamentssitzungen gehört? Wie steht es mit der Streitkultur in den Talkshows, auch mit denen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Ich erinnere daran, dass sich Wolf Biermann als Drachentöter bezeichnete und die frei gewählten Abgeordneten der Linken als den „elenden Rest“. Wo er das tat? Auf dem Jahrmarkt? Nein. Er tat es in einer Feierstunde des Deutschen Bundestages. Er bekam den Beifall vieler Abgeordneter und das Händeschütteln der Kanzlerin. Wieso erwarten wir vom Volk ein sensibleres Streiten als von denen, die von eben jenem Volk in die Parlamente gewählt wurden?
Ich selbst entwickelte mein Interesse an Politik als Teenager. Ich wuchs auf in einer sächsischen Kleinstadt, also in der DDR. Mit Westfernsehen war nichts. Ich klebte stundenlang am Radioapparat und hörte die Debatten im Bonner Bundestag. Wenn Herbert Wehner und Franz Josef Strauß aufeinander prallten, begriff ich, dass es in der Politik auch um Leidenschaften geht. Ich entwickelte ein Gespür dafür, dass die politische Meinungsführerschaft in einer Demokratie nicht durch Parteitagsbeschlüsse und in der Zeitung abgedruckte Konsenspapiere gewonnen wird, sondern durch öffentliche, harte und kontroverse Debatten. Und auch durch Emotionen!
Ist es möglicherweise das, was die „zornigen alten Männern“ heutzutage vermissen: die Leidenschaft, die Rhetorik, den Schlagabtausch, die klare, politisch unkorrekte Sprache? Wie gesagt: Es gibt Entgleisungen, die sind nicht hinnehmbar. Wer sie am Abend des 7. Juli erlebt hat, hätte aufstehen und sie benennen können. Verbalinjurien oder andere strafrechtlich relevante Äußerungen, die das Einschreiten des Moderators erzwungen hätten, habe ich nicht vernommen. Michael Bartsch und Franz Werfel (Artikel in der SäZ vom 9. Juli) berichten davon, dass ein Teilnehmer die Erschießungsgeste auf einen Referenten gerichtet hat. Ich kann das weder bestätigen noch dementieren. Hat es diese Geste gegeben, dann hätte jeder, der sie gesehen hat, aufstehen und laut protestieren müssen.
Immerhin: einige Teilnehmer griffen in die Auseinandersetzung ein und nutzten die in der Mitte stehenden Mikrofone. Der aus Ägypten stammende und in Dresden lebende Menschenrechtler Nabil Yacoub hielt gegen Ende ein glühendes Plädoyer, in dem er einem Vorredner vehement widersprach und die Demokratiefähigkeit des Islam verteidigte. Andere Teilnehmer nutzten die Pausen und die Zeit nach Veranstaltungsschluss. In der Hitze des Gefechts wurde nicht nur akklamiert. Es wurde gestritten.
Wie weiter? Der Ausgrenzung durch Ausgrenzung begegnen?
Wer sich der Mühe unterzieht und den Veranstaltungskalender der Landeszentrale zur Kenntnis nimmt, wird feststellen, dass verschiedene Formate angeboten werden. Die Arbeit ist nicht beschränkt auf abendliche Diskussionen, die sich durch Kontroverse und Emotionalität auszeichnen. Nach wie vor gibt es Vorträge, Seminare und Tagungen. Zwei Schwerpunkte werden bleiben: die Weltreligion des Islam tiefgehender vorzustellen sowie die Veränderungen zu reflektieren, die der Freistaat erfährt durch die demografische Entwicklung, durch die Einwanderung und durch die um Asyl bittenden Menschen.
Im Projekt „K!D“ (Kommune im Dialog) erreichen uns nach wie vor Anfragen aus Städten und Gemeinden. Fast immer geht es um Veranstaltungen zum Thema Asyl. Die öffentliche Diskussion wird anfangs oft von denen bestimmt, die Fremde und Asylsuchende pauschal ausgrenzen und diffamieren. Die Stimmungs- und Tonlage der „Ausgrenzer“ kennen wir inzwischen allzu gut. Es mag politisch legitim und geboten sein, sie vom Diskurs auszuschließen. Manchmal ist es unumgänglich. Schwierig ist es allemal. Wie soll man von vornherein ausgrenzen, wenn man den Austausch organisieren will? Sollen meine Kollegen Befragungen durchführen? Gesinnungskontrolle am Einlass?
Grundsätzlich entspricht es nicht unserem Ansatz, der Logik der Ausgrenzung mit der Logik der Ausgrenzung zu begegnen. Der Landeszentrale geht es darum, möglichst viele Menschen für den offenen und fairen Diskurs zu gewinnen. Wir werden weiter versuchen, politische Meinungsbildungsprozesse auf breiter Basis zu unterstützen. Die Landeszentrale für politische Bildung verfolgt ihrem Auftrag gemäß nicht das Ziel, politisches Profil durch Ausgrenzung Andersdenkender zu entwickeln.
Die Kollegen und ich wissen, dass unser Ansatz Grenzen hat. Wo gehetzt, diffamiert, beschimpft, gepöbelt und Hass verspritzt wird, hört das Gespräch auf. Ich kenne den Vorwurf, dass die Einbeziehung von Personen, die sich asylkritisch oder fremdenfeindlich äußern, diese politisch aufwertet und hoffähig macht. Der Begriff „hoffähig“ scheint in diesem Zusammenhang allerdings ziemlich seltsam. Ich mache die Erfahrung, dass Menschen, die mit einer tendenziell asylkritischen oder fremdenfeindlichen Einstellung kommen, diese im Verlauf eines vernünftigen Informations- und Diskussionsprozesses relativieren und davon abgehalten werden, sich Extremisten anzuschließen. In jedem Fall gilt: Die Menschen wollen angesprochen und einbezogen werden.
Die zuständigen Kollegen der Landeszentrale werden im Projekt K!D weiter nur dann agieren, wenn eine Stadt, eine Gemeinde oder ein Verein sie beauftragt und sie sich mit dem Auftraggeber über die Ziele und Modalitäten verständigen können. Wir überlegen, wie Veranstaltungen so durchgeführt werden können, dass die Überlagerung der Diskussion durch parteipolitische Interessen vermieden wird. Das ist in der so genannten Provinz deutlich leichter als in Dresden.
Mein Freund Lothar Wilczek
Noch einmal zurück zum Abend des 7. Juli. Einer der eingeladenen zornigen alten Männer, die ihre Schwierigkeiten mit der aktuellen Politik haben, ist Lothar Wilczek. Ich kenne ihn seit über 25 Jahren. Lothar hat seither als Diakon in Kenia gearbeitet. Er erzählte mir von furchtbaren Massakern, von der täglichen Sorge ums Überleben, von den 2.4 Millionen Euro, die er für die Errichtung einer Leprastation, zweier Schulen und eines Waisenhauses gesammelt hat und davon, dass er jetzt in Freiberg 40 koptische Flüchtlinge aus Eritrea betreut. Er spricht aus Erfahrung: „Die Flucht aus der Heimat ist nicht der richtige Weg. Es ist für mich unerträglich, dass die ethnischen und religiösen Konflikte, die der Grund zur Flucht waren, auf unserem Boden, in den Aufnahmeländern, weiter ausgetragen werden.“
Am Abend des 7. Juli hatte er über das handwerkliche Geschick und den Fleiß der Afrikaner gesprochen, aber auch davon, dass bei ihnen alles „viel, viel langsamer geht“. Von einem Zuhörer wurde diese Aussage angegriffen: unzutreffend pauschalisierend und tendenziell rassistisch. Lothar Wilczek – tendenziell ein Rassist? Mon Dieu! Er schrieb mir, wie enttäuscht und geschockt er war. Ich habe ihn darum gebeten, auch weiterhin zur Verfügung zu stehen, wenn es um eine offene Auseinandersetzung geht. Ein 75jähriger Mann mit seiner Lebenserfahrung und seinem Engagement sollte sich nicht schweigend zurückziehen. Er sollte weiterhin sagen, was er denkt und reden, wie er es für richtig hält. Es ist nicht verboten, zornig zu sein.
Alle, die am Abend des 7. Juli ans Pult der Landeszentrale traten, erhielten Applaus. Die einen mehr, die anderen weniger. Das ist normal. Allen, die gekommen waren, wurde Literatur zum Thema sowie das aktuelle Informationsblatt des Sächsischen Ausländerbeauftragten zum Asyl kostenlos zur Verfügung gestellt. Gegen 23 Uhr entlud sich über dem Gebäude der Landeszentrale ein heftiges Gewitter. Es kam Sturm auf. Die Hitze des Abends wich der Kühle der Nacht. Die politische Auseinandersetzung blieb.
Frank Richter ist Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung