Online-Mündigkeit und digitale Filterblasen

Ein Veranstaltungsbericht zur Tagung "Zwischen Bots und Spots - Wie funktioniert digitaler Wahlkampf wirklich?" vom 24. August 2017.

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Wer an diesem 24. August auf dem Weg zur Landeszentrale für Politische Bildung das Dresdner Stadtzentrum passierte, konnte den Auftakt zum Straßenwahlkampf beobachten. Sind diese armen Kandidaten unter den parteifarbenen Sonnenschirmen Leute von gestern? Der moderne und vor allem junge Mensch informiert sich schließlich - wenn überhaupt - aus dem Internet. Werden folglich auch Wahlen im Internet gewonnen? Und wenn ja, wie?

Bezeichnenderweise gab dieser Tag an der Landeszentrale darauf keine eindeutige Antwort. Denn wie alle Errungenschaften des Fortschritts tragen auch die Kommunikationsmittel des 21. Jahrhunderts ambivalente Züge. Und dass der persönliche Auftritt, die direkte Begegnung mit Bürgern letztlich durch nichts zu ersetzen sind, bestätigen auch Politiker, die auf facebook zu den aktivsten gehören wie der sächsische SPD-Landesvorsitzende und Wirtschaftsminister Martin Dulig. In diesem Sinn ist also „off“, wer online verweilt, und im persönlichen Sinn „on“, wer offline das unmittelbare Gespräch sucht.

Allein der Umstand, dass neben der SLpB erstmals die Verbraucherzentrale Sachsen als Mitveranstalter auftrat, weist auf die Doppelbödigkeit der Internet-Kommunikation hin. „Verbraucher“ von Onlineinformationen muss man oft vor sich selber schützen. Katja Henschler, Leiterin der Verbraucherzentrale, meinte zwar gleich in ihrer Einführung, dass es so etwas wie Fake News schon seit Beginn der Menschheit gebe. Die Überprüfungsmöglichkeiten seien nur beschränkter gewesen. Unverändert gelte aber, dass Menschen gern glauben, was sie glauben möchten. Das Internet birgt somit gleichermaßen ein Verifizierungs- wie ein Manipulationspotenzial.  

On- oder offline – wer unterscheidet das noch?  

„Es gibt 2017 keinen Online-Wahlkampf mehr!“ Der Hamburger Martin Fuchs, Diplom-Kaufmann für Medienwirtschaft mit Lehrauftrag in Passau und Politikberater, verblüffte zunächst mit dieser These. Sie wird schnell plausibel, wenn man sich verdeutlicht, dass alle Smartphonebesitzer im Grunde ständig online sind. „On- und Offline verschmelzen immer stärker miteinander“, präzisierte Fuchs. Mit einer Fülle von Fakten vermittelte er mehr ein Gefühl für die Trends und den gegenwärtigen Stand der Nutzung von Internet und Social Media, denn die absoluten Zahlen differierten zum Teil gegenüber den Angaben des zweiten Referenten Kay Hinz.

85 Prozent der Deutschen verfügen über einen Internetzugang, vier Fünftel nutzen die so genannten sozialen Netzwerke. Ungefähr jeder Dritte hat ein facebook-Profil angelegt, bei Twitter schwanken die Angaben der aktiven Zwitscherer zwischen ein und vier Millionen. Etwa drei Viertel der Bundesbürger suchen nach Informationen im www, auch nach politischen. Mit 44 und 41 Prozent liegen dabei die Angebote der Tageszeitungen und diverser Portale an der Spitze. Nur noch für jeden fünften Jugendlichen spielen Radiosender und ihre Onlineangebote eine Rolle. „Social Media ist der Standard in der politischen Kommunikation“ behauptet Fuchs.

Die Frage, inwieweit sich die Parteien darauf einlassen, kam dem Wahlkampfthema dieser Tagung näher. Die Grünen beispielsweise gelten als DIE Twitterpartei und stecken die Hälfte des Wahlkampfbudgets in die Online-Werbung. Bei den Communities liegen sie an der Spitze. Mit deutlichem Abstand folgen fast gleichauf AfD, SPD und Linke. Merkwürdigerweise stellte in der Diskussion niemand die Frage nach dem Effekt dieser Präsenz, und auch Martin Fuchs ging nicht darauf ein. Denn offensichtlich besteht zwischen Online-Aktivitäten und Wählergunst kein zwingender Zusammenhang. Die konservative Union bleibt auch im Wahlkampf eher traditionellen Methoden verhaftet und liegt doch vorn.  

Vielfalt oder Filterblasen-Einfalt  

Wohl aber wurde in der Diskussion danach gefragt, wen die Parteien eigentlich erreichen wollen. Denn die vom Referenten konstatierte zunehmende Vielfalt digitaler Plattformen bedeutet noch keine Ansprache breiterer Schichten. Immer wieder tauchte bei Referenten und im Publikum vielmehr das Phänomen auf, das Fuchs als „Abwanderung in geschlossene Systeme“ beschreibt. Das Schlagwort „Filterblase“ trifft auf das kommerzielle wie auf das politische Internet zu, wenn Informationen aufgrund von Algorithmen selektiert werden, die Geschmacks- und Gesinnungsparameter des Nutzers auswerten. Längst weiß man, dass im Netz nicht automatisch  mehr Diskurs gedeiht, sondern ebenso die affirmative Verständigung unter seinesgleichen stattfindet.

Ein bisschen marktschreierisch stellte Martin Fuchs den aktuellen Bundestagswahlkampf als den „ersten Echtzeit-Wahlkampf“ hin. Der Hang, jeden Politikerstammtisch per Livestream zu dokumentieren, überrascht wenig angesichts der verbreiteten Manie, aller Welt die Zusammensetzung seines Frühstücksmenüs mitzuteilen. Die Feststellung, dass das Internet für die Organisation des Wahlkampfes immer wichtiger werde, stützte indirekt die These, dass es letztlich doch auf die persönliche Präsenz, auf die Kandidaten zum Anfassen ankommt. Dies umso mehr, weil im Netz die Verunsicherung um sich greift, ob man es noch mit einer menschlichen Person oder mit Social Bots zu tun hat, also scheinbar denkenden Automaten.  

Big Data und die kleinen Lecks  

Für diese Wahlkampforganisation braucht man Daten. Das verunsichernde Schlagwort von Big Data, der nicht mehr beherrschbaren massenhaften Datensammlung, musste in diesem Zusammenhang fallen. Hier waren Fuchs und der Internetpionier Karsten Schramm verschiedener Ansicht. Fuchs meinte, gegenüber dem Bundestagswahlkampf 2013 sei die Datenmenge nicht nennenswert angewachsen, die man für Meinungs-Targeting, Haustürwahlkampf oder schnelle Kampagnenmobilisierung nutzen könne. Schramm hingegen ist nicht nur der Vater des kostenlosen E-Mail-Dienstleisters GMX, sondern auch Verfasser der zehn Gebote der digitalen Ethik. Er schockierte mit der Angabe, dass vor fünf Jahren die Datenspur eines jeden Menschen noch mit etwa 500 MB beziffert werden konnte, heute jedoch schon auf ein bis zwei Terabyte geschätzt wird.

Wo viel gesammelt wird, gibt es auch viel zu hacken. Nach Erfahrungen bei den jüngsten Wahlen in den USA, Frankreich oder Großbritannien seien alle Parteien auf Leaks oder Fakes vorbereitet, meinte Martin Fuchs. Er schloss nicht aus, dass die aus dem Bundestag verschwundenen 16 GB Daten unbekannter Brisanz im Wahlkampf noch auftauchen.  

Kein zusätzliches Demokratisierungspotenzial  

Aber es ging ja eigentlich um den Online-Wahlkampf, und hier dämpfte der junge Berliner Politik- und Kommunikationswissenschaftler Kay Hinz überzogene Erwartungen. In seiner viel beachteten Dissertation hat er den Online- Bundestagswahlkampf 2013 analysiert. Internet-Angebote orientierten sich mehr an interessierten und bereits entschiedenen Leuten als an der allgemeinen Wählerschaft, lautet eine Erkenntnis. Unterstützer wiederum setzten meist nur ihr „like“, leisteten aber draußen selten praktische Hilfe. Auch Hinz konstatiert die Tendenz zu „exklusiven Zirkeln“, während das Potenzial kaum noch erreichbarer frustrierter Bürger von der Politik noch nicht hinreichend erkannt werde.

Nüchtern sieht der Medienwissenschaftler folglich „kein zusätzliches Demokratisierungspotenzial“ im Online-Wahlkampf. Der habe tendenziell zwar einen größeren Einfluss, sei aber „bislang nicht wahlentscheidend“. Er ergänze den klassischen Wahlkampf, ersetze ihn aber nicht. „Wahlen werden in der Öffentlichkeit gewonnen“, stellte Kay Hinz unmissverständlich fest. Man könnte hinzufügen, dass die spektakuläre Diskussion der Kanzlerin mit jungen Youtube-Fans auch eine Form von Öffentlichkeit ist. Durch die Diskussion herausgefordert, spitzte Hinz noch einmal zu. „Auch das Netz überwindet die Passivität nicht“, adressierte er an die Wählerschaft.

Das Fazit des IT-Experten und mindestens ebenso leidenschaftlichen Informations-Verbraucherschützers Karsten Schramm fiel skeptischer aus. Das Wörtchen „noch“ dominierte. Noch seien Auswüchse wie im US-Wahlkampf vom Herbst 2016 bei uns nicht zu erwarten. Und noch sei die Online-Wählerbeeinflussung nicht so weit fortgeschritten. Er hätte auch von Manipulation sprechen können.

Mit etwas Abstand erscheint dieser gut besuchte Tag in der Landeszentrale gar nicht mehr in erster Linie auf den Wahlkampf fixiert. Durchschnittlich Vernetzte konnten allgemein eine Menge über Hintergründe, Zusammenhänge und Risiken in einem unüberschaubar gewordenen Medium lernen. Expertenwissen wurde vermittelt, das manchen überforderte und andererseits in den Diskussionen nach den Referaten stellenweise Insider-Fachgespräche auslöste. Eine Herausforderung zum generell verantwortlicheren und skeptischen Umgang mit einem verführerischen Medium. Die „offline“ fällige Wahlentscheidung zu treffen, erleichtert das Internet jedenfalls nicht generell. Der „Wahl-O-Mat“ der Bundeszentrale für Politische Bildung bietet dafür aber immerhin eine unbestrittene Hilfe. Im Übrigen aber gilt die Warnung von Karsten Schramm, der Communities mit Stammtischen verglich: „Wir werden mehr und mehr in einer digitalen Filterblase landen!“