„Ein Fokus liegt auf der Zivilgesellschaft, die sich durchsetzt. Das hat natürlich eine pathetische Komponente“ (Prof. Dr. Tim Buchen)
Tim Buchen, Juniorprofessor am Institut für Geschichte der Technischen Universität Dresden (TU Dresden), ordnet die Revolutionen in den staatssozialistischen Ländern ein. Für ihn gab es schon lange vor den Massendemonstrationen 1989 Faktoren, die den Zusammenbruch der Staaten beeinflussten.
Herr Buchen, was sehen Sie in der Fülle der Fotos als Historiker?
Für mich wird deutlich, wie überraschend die Ereignisse zunächst aus der Ferne wirken. Der Fotograf Mirko Krizanovic reiste für die F.A.Z., eine westdeutsche Zeitung, relativ spontan an Orte, wo etwas Dramatisches passierte. Zunächst ist auch für viele Medien noch nicht klar, dass hier ein umfassender Systemwechsel stattfindet. Die Kettenreaktion, die viele Staaten im Osten Europas erfasste, beginnt ab dem Frühsommer 1989 symbolträchtig mit der blutigen Niederschlagung von Protesten in Peking. Am gleichen Tag waren die ersten freien Wahlen in Polen. Man sieht, es tut sich eine Schere auf, wie sozialistische Regimes umgehen mit gesellschaftlichen Forderungen. Daraufhin überschlagen sich die Ereignisse. Dass sie stark miteinander vernetzt sind, zeigt die Ausstellung ebenfalls.
Wie wichtig war die Politik von Michael Gorbatschow in der damaligen Sowjetunion für die Welle der Revolutionen?
Es gibt eine Reihe von Faktoren, die Politik Gorbatschows von Glasnost und Perestroika war ein wesentlicher. Es gab allerdings auch einen ökonomischen Hintergrund. Viele dieser Staaten standen vor dem Bankrott, sie waren hoch verschuldet im westlichen Ausland. Man hatte sich ab den 1960er-Jahren auf den Wettbewerb mit kapitalistischen Gesellschaften eingelassen und sich steigenden Wohlstand versprochen. Irgendwann musste man jedoch einsehen, dass man ihn nicht erreichen wird. Auch innerhalb der Nomenklatura waren viele in den 1980er-Jahren nicht mehr bereit, für die sozialistischen Systeme ihre Hand ins Feuer zu legen. Ganz im Gegenteil, viele haben sich sogar darauf vorbereitet, Wechsel einzuleiten. In der Sowjetunion wurde das unter Gorbatschow schon früh in Angriff genommen. In Ungarn gab es bereits 1987 Experimente mit Privatwirtschaft. Vom Wandel ausgenommen sind unter den von Krizanovic bereisten Ländern Rumänien und die DDR, dort blieb das Umschwenken innerhalb der Nomenklatura zunächst aus. Dass die Revolutionen im östlichen Europa schließlich fast gleichzeitig ausbrachen, liegt auch an der Verstrickung in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum. Diese Staaten waren Satelliten der Sowjetunion und abhängig von ökonomischen Kreisläufen. Bei den Revolutionen spielte auch die Macht der Bilder eine Rolle. Fotos und Fernsehbilder von den Demonstrationen verbreiteten sich, motivierten Nachahmung im Nachbarland, setzten reformunwillige Regimes unter Druck. Außerdem gab es die Macht der Zahlen. Jene, die in den Systemen vorher unsichtbar waren, standen plötzlich zu Zehntausenden auf der Straße.
Warum haben Rumänien und die DDR Sonderrollen?
Beide Staaten hatten unverhältnismäßig stärker ausgebaute Sicherheitsapparate. Die rumänische Securitate galt zudem noch als äußerst brutal und furchteinflößend. Die Geheimdienste haben Unsicherheit und Misstrauen in den Gesellschaften gesät. In beiden Ländern gab es nur eine vergleichsweise schwach organisierte Opposition. Aber sowohl in Rumänien als auch in der DDR bildeten sich 1989 innerhalb kürzester Zeit riesige Demonstrationen. Mit unterschiedlichem Ausgang. In der DDR verliefen die Proteste friedlich, in Rumänien gewaltsam. Und später stellte sich in Rumänien die Frage, ob die Revolution in Rumänien überhaupt stattgefunden hat, oder ob sie gestohlen wurde.
Lässt sich heute beurteilen, ob eine Revolution funktioniert hat oder nicht?
Es ist schwierig, das absolut zu beantworten. In Rumänien gab es das Problem eines unklaren Elitentransfers. Es gab zwar einen Machtwechsel, andere Parteien konnten gewählt werden. Andererseits konnten viele an den Machthebeln ihre Karriere fortsetzen. In der DDR war der Elitenwandel viel umfassender, da kam vor allem „unbelastetes“ Personal aus dem anderen Teil des Landes. Dadurch konnten Ostdeutsche den folgenden Wandel kaum in führenden Rollen mitgestalten.
Wann war der Punkt gekommen, an dem viele Menschen auf die Straße gingen?
Sicher spielt die Aussicht eine Rolle, dass Demonstrationen etwas bringen könnten. Dass man Unterstützung bekommt. Und dass andere diese Aktionen wahrnehmen, dass davon erzählt wird, dass Bilder entstehen und gesehen werden. Ich glaube auch, dass die Menschen fühlten, dass die Staatsmacht nicht mehr so repressiv vorgehen würde. Also nicht in einer massiven Form wie 1953, 1956 in Ungarn oder 1968 in Prag, als Panzer durch die Straßen rollten. Die Breschnew-Doktrin, wonach der Warschauer Pakt das Ausscheren eines Staates aus dem sozialistischen Lager mit Gewalt verhindern würde, war ja von Gorbatschow aufgehoben worden.
In einigen osteuropäischen Ländern gibt es heute hohe Zustimmung für autoritäre und nationalistische Angebote. Kann man Erklärungen in der früheren Prägung suchen?
Es handelt sich um postsozialistische Gesellschaften, deren Führungen früher stark auf Homogenität ausgerichtet waren und nach der Entstalinisierung mit nationalistischer Rhetorik operiert haben. Die Gesellschaften haben sich durch soziale und räumliche Mobilität schnell pluralisiert und viele Menschen erfuhren sich als Verlierer dieser Entwicklung. Sie sind vom Wandel enttäuscht, da der Kapitalismus zwar eine Verbesserung der materiellen Lage gebracht hat, sie sich aber wieder von einem System bevormundet fühlen und eine neue, urbane Kaste von Privilegierten hervorgebracht hat, die in einer anderen Welt ohne Probleme zu leben scheinen. Populisten behaupten für „die Mehrheit“, für „das Volk“ zu sprechen und es ins Recht zu setzen, was der Rhetorik im Staatssozialismus nahekommt. Die polnische Regierungspartei PIS gibt sich stramm antikommunistisch, belebt aber in Schulbildung und Familienpolitik Fragmente des Staatssozialismus wieder. Zugleich richtet sie Verachtung und Häme gegen die Milieus, die von der Transformation profitiert haben. Das sind Muster, mit denen früher „Klassenfeinde“ diffamiert wurden, durch die man jetzt wieder auf der richtigen Seite steht. Zudem spielt eine Rolle, wie im Sozialismus Vergangenheit, der Zweite Weltkrieg zum Beispiel, thematisiert und verschwiegen wurde. Innerhalb weniger Jahre und Jahrzehnte mussten die Gesellschaften nach 1989 zur Kenntnis nehmen, nicht nur Helden und Opfer, sondern auch Täter und Mittäter und vor allem Mitläufer hervorgebracht zu haben. Gegen diese Einsicht regt sich auch Widerstand, der in nationalistischen Gegenentwürfen formuliert wird.
Gibt es Mythen, die bei unserem heutigen Blick auf die Revolutionen eine Rolle spielen?
Viele Bilder zeigen die mutigen Besetzungen der Stasi-Zentralen, Verbrüderungen an der Mauer, Massendemonstrationen. Es signalisiert, dass die Menschen das System zu Fall gebracht haben. Das ist natürlich nicht falsch, aber eine verengende Darstellung. Hinter diesen Entwicklungen stehen eben auch die schwierigen ökonomischen Faktoren, die Erosionen, die es zuvor schon in den einzelnen Ländern gab. Ein Fokus vieler Darstellungen liegt auf der Zivilgesellschaft, die sich durchsetzt. Das hat natürlich eine pathetische Komponente. Ich teile die Idee der Wichtigkeit einer starken Zivilgesellschaft. Man muss es als Missstand empfinden, wenn sie nur schwach ausgeprägt ist. Aber aus Sicht der Historiker ist es eine unterkomplexe Darstellung der Ereignisse. Im Staatssozialismus musste die Zivilgesellschaft schwach ausgeprägt sein, sie wurde ja aktiv unterdrückt. Man muss stärker die Rolle der „unzivilen Gesellschaft“, der Nomenklatura, die ihre Macht abgibt, in den Blick nehmen. Eine weitere Verzerrung der Revolution entsteht durch die Erzählung auf einen Endpunkt hin, im Fall der DDR ist das die Wiedervereinigung. Dabei gab es Alternativen und es hat sich danach noch enorm viel verändert. Es geht auch um enttäuschte Hoffnungen, die bei der Transformation entstanden sind. Die Kosten waren enorm. Die Geschwindigkeit, mit der der Wandel sich vollzog und noch vollzieht, ist sehr hoch.
Das Interview führte Doreen Reinhard