„Gegen die Radikalisierung kamen wir nicht an“
Ein Foto von Mirko Krizanovic zeigt einen Zwickauer Jugendklub im Jahr 1990, in dem sich auch Neonazis trafen. Was hat sich seither verändert?
Als ich mich mit den Fotos von Mirko Krizanovic beschäftigt habe, stach ein Motiv besonders heraus. Immer wieder holte ich das Bild hervor und betrachtete die Szene: Vier junge Männer, aufgenommen 1990 in einem Zwickauer Jugendklub. Drei von ihnen halbstark, selbstbewusst, fast spöttisch schauen sie in die Kamera. Erkennbar sind die optischen Codes der Skinhead-Szene in den frühen 90er-Jahren: fleckig gebleichte Jeans, Fred-Perry-Shirt, rasierte Köpfe. Der Vierte, ein Mann mit Palästinensertuch um den Hals, scheint nicht zu den anderen zu passen. Wer sind diese Männer?
Rechtsextremismus ist in Sachsen nie verschwunden
Das Foto hält mich auch deshalb so lange fest, weil es ins Heute führt. Zu Fragen, die uns fast 30 Jahre später immer noch beschäftigen. Neonazis, Gewaltausbrüche, die Nähe der Szene zu Jugendkulturen – ein Thema, das die Gesellschaft kurz nach dem Mauerfall aufwühlte. Heute ist die Situation ähnlich. Rechtsextremismus ist in Sachsen nie verschwunden, im Gegenteil, die Strukturen sind in den letzten Jahren wieder stärker geworden. Für das Jahr 2018 werden vom sächsischen Verfassungsschutz etwa 2.800 Rechtsextremisten gelistet, etwa 200 mehr als im Jahr zuvor. Auch Straftaten aus diesen Kreisen steigen, sie richten sich vor allem gegen Migranten und politische Gegner.
Der Fotograf Mirko Krizanovic hat Ostdeutschland in den frühen 90er-Jahren häufig besucht. Er erzählte mir, dass er dort auch erlebt habe, wie Linke und Rechte aufeinandergeprallt seien. Wie sich vor allem die Rechten schnell radikalisiert hätten. „Ich habe eine zum Teil orientierungslose Jugend gesehen. Man hatte das Gefühl, die Eltern fehlen“, berichtete Krizanociv. Er kann sich an den Zwickauer Jugendklub erinnern, wer die Männer vor seiner Kamera waren, weiß er nicht mehr.
Ich höre mich in Zwickau um, frage nach Sozialarbeitern von damals und immer wieder wird mir ein Name genannt. Ein Mann, den viele in der Stadt kennen: Jörg Banitz, ein Urgestein, inzwischen Mitte 50, immer noch Sozialarbeiter, so wie schon vor drei Jahrzehnten im Klub „Spinnwebe“. Als Banitz das Foto sieht, erinnert er sich sofort – an den Ort und die Personen. An den Jugendklub, den er mit Anfang Zwanzig zusammen mit anderen im Neubaugebiet Zwickau-Eckersbach eröffnete, ein zunächst improvisierter Treff in einem Versorgungszentrum der DDR. Das Viertel sei in der Wendezeit ein Brennpunkt gewesen. „Viele Menschen wurden damals arbeitslos, es herrschten Unruhe, Frust, Verunsicherung. Viele staatliche Instanzen waren in den Nachwendejahren erst mal überfordert, es wurde nicht durchgegriffen“, sagt er. In dieser Zeit seien immer mehr Neonazis aufgetaucht, auch in der „Spinnwebe“. Das Foto zeigt den harten Kern der Szene. Darauf abgebildet: Ralf Marschner, ein stadtbekannter Rechtsextremist, und zwei seiner Freunde. Marschner sitzt im Foto in der Mitte. Die beiden jungen Männer, der eine hinter ihm, der andere rechts neben ihm, hätten damals zu seiner Clique gehört, erzählt Jörg Banitz.
Schnelle Radikalisierung
Der Sozialarbeiter hat Marschners Biografie jahrelang verfolgt. Marschner, den viele in der Stadt „MoH - Mann ohne Hals“ nannte, lebte damals in einer Skinhead-WG, fungierte als Netzwerker für die rechtsextreme Szene. Bands wurden gegründet, Musik war identitätsstiftend für das Milieu. In Jugendklubs suchte man Proberäume. Auch in der „Spinnwebe“ tauchten die Neonazis auf.
Der junge Mann mit dem Palästinensertuch, links im Bild, ist ein früher Kollege von Jörg Banitz, damals ebenfalls Jugendsozialarbeiter. Inzwischen wohnt er nicht mehr in der Stadt. Banitz erzählt, dass er und andere Sozialarbeiter anfangs noch versucht hätten, auf die Jugendlichen einzuwirken: „Aber gegen die Radikalisierung kamen wir nicht an. Die meisten waren in festen Cliquenstrukturen, in ihrer Ideologie gefangen, da hatten wir keine Chance.“ Ein regelmäßiger Treff für Neonazis sei der Jugendklub nicht geworden. „Wir wussten um die Ideologie und wollten unsere Räume nicht für rechtsorientierte Jugendliche öffnen.“
Die Szene um Ralf Marschner radikalisierte sich schnell. 1991 soll er mit anderen Rechtsextremisten ein Zwickauer Asylbewerberheim in Brand gesetzt haben, das berichten Journalisten, die zu Marschners Biografie recherchiert haben. Er organisierte zahlreiche Rechtsrock-Konzerte in der Region, betrieb Läden mit Szene-Klamotten, war aktiv in rechtsextremen Gruppierungen. Auch Kontakte mit den Tätern des NSU werden ihm vorgeworfen. Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, die neun Migranten und eine Polizistin ermordeten, lebten bis 2011 unentdeckt in Zwickau – bis die beiden Männer sich das Leben nahmen und Zschäpe ihr Versteck, eine Wohnung auf der Zwickauer Frühlingsstraße, anzündete.
Ein Mann mit Verbindungen
Jörg Banitz hält es für „sehr wahrscheinlich, dass auch Ralf Marschner in Zwickau Verbindungen zu den NSU-Terroristen hatte, denn beim harten Kern der rechtsextremen Szene wusste jeder von jedem Bescheid“. Aufgeklärt sind viele Verbindungen in Ralf Marschners Leben bis heute nicht. Später wurde bekannt, dass Marschner ab 1992 zehn Jahre lang als V-Mann mit dem Decknamen „Primus“ für den Bundesverfassungsschutz gearbeitet hat. In Zwickau wurde er schon länger nicht mehr gesehen. Beim Münchner NSU-Prozess, in dem auch Beate Zschäpe angeklagt war, wurde Marschner nicht als Zeuge vorgeladen. Seit einigen Jahren lebt er in der Schweiz, arbeitete dort unter anderem in einem Antiquitätenhandel.
Ich will von Jörg Banitz wissen: Was hat sich seit 1990 in Zwickau verändert? Einiges, sagt er – und doch nichts Gravierendes. Rechtsextremismus sei nach wie vor ein Problem in der Stadt. „In den frühen 90ern sind durch die schnelle Radikalisierung Strukturen entstanden, die bis heute halten. Es wurden einige Straftäter verurteilt, aber man ist nie im großen Maßstab gegen die Szene vorgegangen. Sie ist nach wie vor gut aufgestellt, auch ein Stück weit in eine gesellschaftliche Normalität gerutscht.“ Man sehe heute keine Springerstiefel und Glatzen mehr. „Der Baseballschläger wird jetzt nicht mehr auf der Schulter getragen, sondern liegt im Kofferraum.“
Den Jugendklub „Spinnwebe“ gibt es in dieser Form nicht mehr, der Treff ist umgezogen und inzwischen in anderer Verantwortung. Jörg Banitz arbeitet in Zwickau immer noch als Sozialarbeiter, inzwischen im soziokulturellen Zentrum „Alter Gasometer“. Dort beschäftigt er sich auch mit den NSU-Verbrechen. In einer Geschichtswerkstatt trifft Banitz sich regelmäßig mit Schülern. Gemeinsam arbeiten sie an einer Dokumentation über Personen, Orte und Ereignisse, die mit dem NSU in Verbindung standen. Es geht um Zwickau als Tatort. Aber auch als Ort der Aufklärung.
Text von Doreen Reinhard