Der Europäische Rat setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, dem Präsidenten des Europäischen Rates sowie dem Kommissionspräsidenten, unterstützt vom Hohen Beauftragten für Außen- und Sicherheitspolitik. Dieses Gremium, das oft verkürzt als „EU-Gipfel“ bezeichnet wird, ist nicht zu verwechseln mit dem Rat der Europäischen Union, der auch unter der Bezeichnung „Ministerrat“ bekannt ist. Der Europäische Rat tagt meist zweimal pro Halbjahr in Brüssel, in Situationen mit akutem Entscheidungsbedarf darüber hinaus auf spontan angesetzten Sondergipfeln. Er dient dazu, die Interessen der Mitgliedstaaten bei aktuellen, drängenden Problemen auf hochrangigster Ebene auszugleichen und entscheidet daher nach intergouvernementaler Logik.
Die Europäische Union besteht aus verschiedenen Institutionen, welche dazu dienen sollen, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Bürgerinnen und Bürger aller Mitgliedstaaten zu finden. Dabei gibt es im Wesentlichen zwei Logiken, nach denen diese Institutionen Beschlüsse treffen können: Intergouvernemental (von lat. „inter“ – „zwischen“, also zwischen den Regierungen ausgehandelt) oder supranational (von lat. „supra“ – „über“, also über den Nationen stehend).
Intergouvernemental: Hiermit sind die Institutionen gemeint, in denen die Sachfragen von den Mitgliedern der Regierungen der Mitgliedstaaten beschlossen werden. Das betrifft vor allem den Europäischen Rat („Gipfel der Staats- und Regierungschefs“) und den Rat der Europäischen Union („Ministerrat“). Die hier angewandte Logik entspricht der einer Verständigung zwischen den Staaten. Das hat den Vorteil, dass die einzelnen Mitgliedstaaten mehr Kontrolle über die Entscheidungen behalten und auf diese Weise weniger Souveränität abgeben müssen. Allerdings führt dies auch dazu, dass die nationalen Interessen im Vordergrund stehen und sich die Entscheidungsfindung mitunter langwierig gestaltet. Nach dieser Logik entstehende Kompromisse führen zudem unter Umständen zu ineffizienten Lösungen, da die Interessen der Nationalstaaten und die jeweilige (symbolische) Innenpolitik ein höheres Gewicht einnehmen können als die Tauglichkeit der Lösung.
Supranational: Die Institutionen, die nach supranationaler Logik entscheiden, wurden zwar ursprünglich ebenfalls von den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten eingerichtet, handeln aber seit diesem Zeitpunkt unabhängig und stehen über den Mitgliedstaaten. Dies hat den Vorteil, dass die Mitglieder dieser Institutionen nicht den Regierungen der Mitgliedstaaten, sondern nur den Bürgerinnen und Bürgern der Europäischen Union gegenüber rechenschaftspflichtig sind, von welchen sie auch – vor allem im Fall des Europäischen Parlaments – legitimiert werden. Nach dieser Logik handelt vor allem das Europäische Parlament, die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof. Supranationale Institutionen müssen weniger Rücksicht auf die Interessenlage der Mitgliedstaaten nehmen und können unter Umständen schneller bindende Entscheidungen treffen, welche die Mitgliedstaaten aus eigener Kraft nicht als Kompromiss erreicht hätten, obwohl sie der gesamten Union langfristig zu Gute kommen. Dies hat allerdings zur Voraussetzung, dass die Mitgliedstaaten bereit sind, Souveränität abzugeben und den Aufbau eines „Staates über den Staaten“ zu unterstützen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Legitimation dieser Institutionen und ob diese ab einem gewissen Grad der Kompetenzanhäufung eine eigene, europäische Verfassung als Grundlage benötigen.
Die Europäische Union ist ein Mischsystem, in welchem sich einflussreiche intergouvernementale wie auch beharrliche supranationale Einrichtungen beobachten lassen, welche nicht selten auch miteinander konkurrieren. Diese Form der staatlichen Zusammenarbeit ist weltweit einzigartig, ein vergleichbares System lässt sich nirgendwo finden.
Aufgaben des Europäischen Rates
Der Gipfel ist das Leitungsorgan und politische Entscheidungszentrum der Europäischen Union. Er gibt der EU die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen fest. Immer wieder hat der Europäische Rat in der Vergangenheit den Aufbau der EU stark geprägt, indem er entscheidende Vertragsänderungen angestoßen und beschlossen hat. Auch die Beschlüsse des Europäischen Rates zur Erweiterung haben das Gesicht der EU verändert und die Weiterentwicklung der europäischen Integration in entscheidendem Maße beeinflusst. In Ausübung seiner Wahlfunktion, beim Vorschlag des Kommissionspräsidenten oder bei der Auswahl des Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) hat der Gipfel ebenfalls eine wichtige politische Gestaltungsfunktion inne. Immer wieder gibt er den Mitgliedstaaten durch die von ihm gesetzten allgemeinen Leitlinien zu wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen und durch seine Erklärungen zu wichtigen Themen der Außenpolitik zentrale Orientierungspunkte vor. Die Entscheidungen im Europäischen Rat sind, mit sehr seltenen Ausnahmen, Konsensentscheidungen, was bedeutet, dass entweder ein Kompromiss gefunden wird, dem alle zustimmen können oder aber es kommt zu keiner Entscheidung in der Sache.
Europäischer Rat als Dreh- und Angelpunkt europäischer Entscheidungen
Aus einem ursprünglich informellen Gremium entwickelte sich mit dem Gipfel einer der zentralen Akteure auf europäischer Ebene. Während er eigentlich nicht mehr als ein Treffen der Staats- und Regierungschefs darstellte, um über die formalen Institutionen der EU hinaus der europäischen Diplomatie eine Regelmäßigkeit und Struktur zu verleihen, vereint der Europäische Rat inzwischen den Großteil der Entscheidungskompetenzen und der medialen Aufmerksamkeit auf sich. Das lässt sich vor allem in Krisenzeiten beobachten, wenn auf dem Gipfel Tatsachen geschaffen werden, die durch die ordentlichen Gesetzgebungsinstitutionen (Europäisches Parlament, Europäische Kommission und Ministerrat) im Nachhinein nur noch im Detail ausgearbeitet werden können, wie beispielsweise zum Ausbruch der Finanzkrise oder in der aktuellen Frage des Umgangs der EU mit dem Austritt Großbritanniens („Brexit“). Dabei ist der Europäische Rat formal nicht zur Gesetzgebung befugt, er kann jedoch die Kommission verbindlich anweisen, sich eines Problems im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren anzunehmen sowie Sachfragen an den entsprechenden Ministerrat überweisen, um auf diesem Wege ein reguläres Gesetz zu erzeugen. Die Autorität des Gipfels entsteht also weniger durch seine Stellung in den Europäischen Verträgen, sondern vor allem symbolisch durch die Tatsache, dass jede Erklärung des Gipfels einen Konsens der europäischen Staats- und Regierungschefs darstellt und somit medial entsprechend als Einigung der Mitgliedstaaten wahrgenommen wird.
Dabei lässt es sich durchaus als problematisch einordnen, dass ein derart wichtiges Entscheidungsgremium nach wie vor durch seine ursprüngliche Informalität gekennzeichnet ist, vor allem was seine Intransparenz betrifft. Dies spiegelt sich auch im Ablauf der Treffen wider, die am Abend des Donnerstages mit einem nichtöffentlichen Abendessen beginnen. Auch die Inhalte der Verhandlungen, welche freitags über den Tag verteilt stattfinden, werden der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht. Kommuniziert werden die verhandelten Positionen also ausschließlich über individuelle Pressestatements sowie ein gemeinsames Abschlusspapier in Verbindung mit zwei Pressekonferenzen zu Beginn und Ende des Treffens.
Außerdem zeigt sich in der zentralen Position, die der Gipfel einnimmt, dass die EU nach wie vor stark durch exklusive, bilaterale Bündnissysteme geprägt ist. Dass durch eine vorhergehende Einigung zwischen Deutschland und Frankreich viele Sachfragen bereits faktisch entschieden sind, bevor sie die dafür vorgesehenen Gremien durchlaufen, ist nicht nur in Hinblick auf die Problematik der Legitimation fragwürdig, sondern löst auch Widerstand bei an dieser „Achse“ nicht beteiligten Ländern aus. So konkurrieren traditionelle Blöcke, wie der der BENELUX-Staaten oder der deutsch-französischen Achse, mit neu entstandenen Bündnissen, wie beispielsweise der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn). Letztgenannte verlangen in dem Maß nach mehr Einfluss, wie sie ihre Interessen im Europäischen Rat übergangen sehen. Die einzige Methode zum langfristigen Abbau solcher Spannungen stellte also die Verlagerung von Entscheidungen auf Institutionen aus, in denen der Einfluss der Mitgliedstaaten formal geregelt ist.
Präsident des Europäischen Rates – supranationale Einhegung des Rates?
Ähnlich wie beim Ministerrat ist auch dem Gipfel ein Amt zugeordnet, welches die Sitzungen vorbereitet und zentrale Linien für die Arbeit des Rates festlegt. Dabei galt früher ebenfalls das Prinzip der rotierenden Ratspräsidentschaften, welche durch die Mitgliedstaaten selbst besetzt wurden. In Anerkennung der wachsenden Bedeutung des Gipfels sowie der damit einhergehende Notwendigkeit einer größeren Kontinuität der Politik des Europäischen Rates wurde dieses System jedoch zugunsten eines dauerhaften Amtsinhabers abgeschafft: Durch den Vertrag von Lissabon wurde 2009 das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates geschaffen, der für die Dauer von jeweils zweieinhalb Jahre den Europäischen Rat leiten soll, während der Ministerrat nach wie vor direkt durch die Mitgliedstaaten im Rotationsprinzip geleitet wird. Nach Ende der Amtszeit ist die Wiederwahl für eine weitere Amtszeit möglich.
Der Präsident des Europäischen Rates bereitet die Sitzungen vor, leitet sie und dient als Sprachrohr des Gipfels, verfügt aber selbst über kein Stimmrecht in den Sachfragen. Gewählt wird der Präsident des Europäischen Rates von diesem Rat selbst, abgesetzt werden kann er durch den Rat aber nur im Falle einer „Verhinderung oder schweren Verfehlung“ (Art. 15 EUV). Derzeit wird das Amt von Charles Michel bekleidet. Ebenso wie seine beiden Vorgänger, Donald Tusk und Herman Van Rompuy, war Michels vor Amtsantritt Ministerpräsident seines Heimatlandes (Polen im Fall von Tusk bzw. Belgien im Falle Rompuys und Michels). Darin zeigt sich, dass die Präsidentschaft des Europäischen Rates durchaus als einflussreiche Position interpretiert werden kann, die vor allem mit starker Medienpräsenz einhergeht. Gleichzeitig stattet das Amt seinen Inhaber nur mit begrenzten Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Entscheidungen des Rates aus. Daher fällt eine abschließende Beurteilung darüber, ob es sich bei der Präsidentschaft des Rates der Europäischen Union eher um einen Sekretärsposten handelt, oder ob der Vorsitz über das derzeit wichtigste Gremium der Europäischen Union auch bedeutende Gestaltungsmacht mit sich bringt, schwer. Diese Frage wird sicherlich auch stark davon abhängen, welche Akzente die zukünftigen Inhaber des noch jungen Amtes auf die Entscheidungen des Gipfels nehmen werden können.