I.3 - Wie sind Verschwörungstheorien aufgebaut?
Großes Ereignis mit eindeutiger Ursache
Die Grundlage für Verschwörungstheorien bildet in der Regel ein gesellschaftliches Ereignis, welches allgemein als wichtig eingeschätzt wird oder große Veränderungen mit sich bringt. So ranken sich viele Verschwörungstheorien beispielsweise um den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001, welches eine Zäsur der US-amerikanischen Außenpolitik nach sich zog oder um die erste Mondlandung im Jahr 1969, welche starken Einfluss auf den Verlauf des Kalten Kriegs nahm. Junge und prominente Ereignisse stellen z.B. die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine dar, welche das Leben aller Menschen weltweit stark beeinflusst.
In der menschlichen Psyche ist eine Denkweise angelegt, dass solchen „großen“ Ereignissen auch „große“ Ursachen zu Grunde liegen müssen. In der Sozialwissenschaft gehen Forscherinnen und Forscher eher von Zufall oder Kontingenz aus, also der Möglichkeit, dass Ereignisse auf viele verschiedene Weisen und unvorhersehbar eintreten und immer nur durch viele verschiedene äußere Faktoren zu erklären sind. Im kontingenten Denken hätte ein Ereignis auch anders oder gar nicht eintreten können. Im verschwörungstheoretischen Denken wird diese Form der ergebnisoffenen Ursachenforschung abgelehnt, stattdessen wird hier immer von einereindeutigen, klar erklärbaren Ursache ausgegangen.
Wer profitiert? Die Bestimmung der Schuldigen
Wenn nichts zufällig oder aufgrund vieler verschiedener Faktoren passiert, müssen alle Ereignisse von einer Personengruppe bewusst herbeigeführt worden sein. Daher schließt sich in Verschwörungstheorien direkt die Frage an, welche Personengruppe von diesem Ereignis angeblich profitiert. Sind die so Schuldigen benannt, legt es nahe, dass diese Personengruppe am Ereignis selbst mitgewirkt oder es gar vollständig herbeigeführt hat. Beim unterstellten Profit handelt es sich um Macht, Einfluss, Kontrolle oder Reichtum, in der Regel aber um eine Gesamtheit all dieser Dinge.
Verschwörungstheorien stellen daher auch immer eine simple moralische Trennung auf: Im Verborgenen die Gruppe der Verschwörer, welche aus bösartigen, selbstsüchtigen Motiven handeln, die in einigen Variationen auch okkulte oder satanistischen Charakter annehmen. Dagegen steht die restliche Gesellschaft, oft auch völkisch zur Gemeinschaft stilisiert, die unter der Verschwörung leidet, ausgebeutet oder missbraucht wird. Moralisch ist hier das Gute verortet, auch hier wiederum mitunter sakral aufgeladen zum Kampf zwischen Engeln und Dämonen oder anderen satanistischen Kreaturen. Diesen Kampf zwischen Gut und Böse führt jedoch nicht die komplette „Volksgemeinschaft“ gegen die Gruppe der Verschwörer, sondern nur ein eingeweihter Kreis von „Wissenden“, also diejenigen, die der Verschwörungstheorie anhängen.
Überzeugung statt Lüge - Unterschied zu Fake-News
Der Rest der Bevölkerung wird entweder als unwissend oder als Teil der Verschwörung wahrgenommen, je nach Positionierung gegenüber der eigenen Verschwörungstheorie. Nicht selten werden Verschwörungstheorien durch den missionarischen Gedanken, Mitmenschen aufzuklären und zu befähigen, auf der Seite des Guten zu kämpfen, verbreitet. Auf gewisse Weise spiegeln Verschwörungstheoretiker damit die Machtverhältnisse: Dem angeblich existierenden Kreis der Verschwörer wird ein ebenfalls begrenzter Kreis von Wissenden entgegengestellt, das Gefühl, gegen den Strom zu Schwimmen und „unterdrücktes Wissen“ weiterzugeben übt dabei besonderen Reiz auf Menschen aus, welche skeptischem Denken nahestehen oder zur Selbstüberschätzung neigen.
In diesem missionarischen Selbstverständnis liegt auch der Unterschied zu Fake-News, worunter die bewusste Verbreitung von Falschinformationen verstanden wird. Natürlich können Verschwörungstheorien auch bewusst zur Desinformation eingesetzt werden, anders als beim Begriff „Fake-News“ muss dies aber nicht der Fall sein.
Plausible Grundannahmen und modularer Aufbau
Verschwörungstheorien basieren fast immer auf plausiblen Annahmen, die auch von der gesellschaftlichen Mehrheit anerkannt werden. Ab einem gewissen Punkt der Argumentation, der von außen nicht immer leicht zu erkennen ist, koppeln sie sich jedoch von einem gut untersuchten Fundament ab und ergänzen es mit der eigentlichen Verschwörungstheorie, welche dann mitunter auf abstrusen Behauptungen aufbaut, die durch die anfänglich nachweisbare Grundlage aber plausibler erscheinen. Gegenbeweise werden dabei nicht mehr akzeptiert. Sie werden entweder ignoriert, mit rhetorischen Stilmitteln marginalisiert oder gar zum Beweis umgemünzt, da die Gegenrede ja Teil der Verschwörung selbst sei.
Als Autoritäten werden Expertinnen und Experten eingeführt, welche in der Regel zwar tatsächlich an anerkannten Institutionen qualifiziert wurden, oft jedoch aus anderen Themenbereichen stammen. Wenn die Haltung eines Hausarztes über der einer Epidemologin angesiedelt wird, zeigt sich darin, dass Verschwörungstheorien kein Interesse daran haben, die wissenschaftliche Debatte ernsthaft einzubeziehen, sondern sich gegen Kritik zu immunisieren. Dass Wissenschaften selbst pluralistisch aufgebaut sind und auch hochqualifizierte Fachmenschen regelmäßig irren, dass im Anerkennen des eigenen Irrtums auch das Wesen von Forschung besteht, wird in Verschwörungstheorien ausgeblendet. Hier existiert genau eine Wahrheit, welche von den Verschwörern unterdrückt wird.
Ein starker Reiz von Verschwörungstheorien besteht schließlich darin, dass sie modular aufgebaut sind. Dadurch, dass eine plausible Beweisführung wie oben beschrieben nicht notwendig ist, stellt es in aller Regel kein Problem dar, verschiedene Varianten, die sich mitunter gar widersprechen, parallel anzuerkennen. Das bedeutet, dass vom verbindenden Element der Skepsis gegenüber der Mehrheitsmeinung eigentlich alles individuell geglaubt werden kann, Verschwörungstheorien zu verschiedenen Ereignissen können von jedem Menschen nach den eigenen Vorlieben im Sinne eines „Baukastenprinzips“ zusammengestellt werden. Sogenannte „Superverschwörungstheorien“ stellen dann gern genutzte Scharniere dar, wie beispielsweise die antisemitische Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung, welche in sehr viele andere Erzählungen Einzug gehalten hat.
Unterschied zu realen Verschwörungen
Natürlich existieren auch reale Verschwörungen. Die nachweisbare Existenz von historischen Verschwörungen geben den Verschwörungstheorien insofern vermeintlich recht. Dabei handelt es sich jedoch um durch kritische Quellenanalyse plausibel erklärbare politische Vorgänge, welche in einer bestimmten Situation ein überschaubares Ziel zur Folge hatten. Der Kreis der Verschwörer lässt sich hier nachvollziehen, vor allem aber auch der Kreis der Mitwisser, welche die Verschwörung vertuschen, während in Verschwörungstheorien mitunter Millionen Menschen an der Verschwörung angeblich beteiligt sein sollen.
Es gibt insofern keine allgemeingültige Grenze zwischen den Phänomenen, aber in aller Regel lässt sich an einer gewissenhaften Beweisführung, welche selbstkritisch argumentiert und wissenschaftlichen Kriterien folgt, um zu vorsichtigen Feststellungen in einem begrenzten Rahmen zu kommen, der Unterschied zu einer Verschwörungstheorie erkennen. Echte Verschwörungen haben überschaubare und auch unbeabsichtigte Folgen, die von den Verschwören nicht mitbedacht werden konnten. Je „perfekter“ eine Verschwörung also durchgeführt wird, je mehr die Verschwörer sämtliche Ereignisse und Konsequenzen unter Kontrolle gebracht oder gar mitgeplant haben und desto weitreichender ihre Zielstellung ist, wie beispielsweise die „Unterwerfung der gesamten Menschheit“, desto eher ist von einer Verschwörungstheorie auszugehen als von einer realen Verschwörung.
- Das Verschwörungstheorien-Bingo. Sprachmerkmale von Verschwörungserzählungen erkennen. Online Verfügbar bei klicksafe.
- Fathi, Shirin: Komplotte, Ketzer und Konspirationen. Zur Logik des Verschwörungsdenkens - Beispiele aus dem Nahen Osten. Bielefeld, 2010.
- Butter, Michael: Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien. Berlin, 2018.
- Comparative Analysis of Conspiracy Theories: Leitfaden Verschwörungstheorien. European Cooperation in Science and Technology, 2020. Online verfügbar als PDF.
- Dietrich, Kirsten: Sinnsuche zwischen Gut und Böse. Dradio Kultur, 2020. Online verfügbar bei Dradio.
- Hepfer, Karl: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Bielefeld, 2015.
- Peitz, Dirk: "Alles ist so, wie Du denkst". Interview mit Michael Butter zu Verschwörungstheorien und dem Attentat in Hanau. Hamburg, 2020. Online verfügbar bei der ZEIT.