I.4 - Warum glauben Menschen an Verschwörungstheorien?

Es gibt Gründe dafür, warum Menschen gerade in Zeiten großer Unsicherheit oder Krisen an Verschwörungstheorien glauben. Einfache Erklärungen für schwer begreifbare Ereignisse, die zudem gleich noch die Verursacher dieser Ereignisse benennen, geben Orientierung und Halt. Im Folgenden sind die wichtigsten Funktionen, die Verschwörungstheorien erfüllen, mit einer kurzen Erläuterung aufgelistet.

Pia Lamberty ist Sozialpsychologin und forscht an der Universität Mainz dazu, ob und inwiefern Verschwörungstheorien zur Radikalisierung von Menschen beitragen. Dazu veröffentlichte sie verschiedene Publikationen.

Pia Lamberty ist Sozialpsychologin und forscht an der Universität Mainz dazu, ob und inwiefern Verschwörungstheorien zur Radikalisierung von Menschen beitragen. Dazu veröffentlichte sie verschiedene Publikationen.

Kontrollfunktion

Besonders in Krisensituationen erleben Verschwörungstheorien einen Boom, weil sie für Menschen ein Mittel sind, um den so entstehenden Gefühlen von Orientierungs- oder Hilflosigkeit oder Kontrollverlust zu begegnen. Krisen und Katastrophen werden als Ergebnis eines absichtsvollen Handelns mutmaßlicher Verschwörerinnen und Verschwörer gedeutet. Der Gedanke, dass hinter einer Entwicklung eine Gruppe von Verschwörernden steckt, die tatsächlich die Fäden in der Hand hält und gegen die man sich wehren kann, gibt Sicherheit. Zudem entsteht das Gefühl, Ereignisse könnten beeinflusst werden, anstatt ihnen hilflos ausgesetzt sein zu müssen.

Selbstaufwertungs- und Entlastungsfunktion

Verschwörungstheorien unterteilen die Welt in Gut und Böse. Dank dieses Freund-Feind-Schemas können sich Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker als das Gute im Gegensatz zu den vermeintlichen Verschwörern, die das Böse darstellen, stilisieren und sich selbst in ihrer Bedeutung erhöhen. Diese „gestiegene Bedeutung“ ist auch eine Erklärung dafür, warum ausschließlich Anhängerinnen und Anhänger von Verschwörungserzählungen Schlechtes widerfährt: die Verschwörenden haben es genau auf sie abgesehen, ihre geheimen Machenschaften sind die Ursache aller eigenen Probleme.

Eine solche Argumentation entlastet, denn so muss man sich nicht kritisch mit eigenen Fehlern auseinandersetzen, sondern kann z.B. Schwierigkeiten wie den Verlust der Arbeitsstelle oder eine beendete Partnerschaft als von außen verschuldet oder aufgezwungen abtun.

Identitäts- und Sinnstiftung

Verschwörungstheorien erfüllen das Bedürfnis, wichtig und besonders oder sogar einzigartig zu sein. Nicht selten verstehen sich Menschen, die Verschwörungsideologien glauben, als Teil einer fortschrittlicheren, klügeren, “aufgewachten” Gruppe, die allen anderen (den “Systemlingen” und “Schlafschafen”) überlegen ist, weil sie über verborgenes Expertenwissen verfügen. Diese neue Identität verleiht nicht nur Selbstbewusstsein, sondern stiftet allen weiteren Aktivitäten ihren Sinn. Dieser besteht im „Widerstand gegen das System“.

Zu den Formen des Widerstandes zählen Aufklärungs- bzw. ideologische Basisarbeit, Wissensvermittlung und Demonstrationen oder Kundgebungen. Rüdiger Hoffmann, auch als Rüdiger Klasen bekannt, steht seit 2013 in der Nähe des Deutschen Bundestages und versucht Passantinnen und Passanten darüber aufzuklären, dass es die BRD nicht gibt und man folglich auch amtlichen Anordnungen nicht zu folgen habe. Widerstand erfüllt die Funktion, die eigene Unbedeutsamkeit/Marginalisierung als etwas Großes umzudeuten, und die Gesellschaft zu boykottieren, von der Verschwörungstheoretikerinnen und Verschwörungstheoretiker kein Teil sein können.

Finanzielle und pragmatische Funktionen

Vor allem Reichsbürger sind dafür bekannt, ihre Theorien eher aus pragmatischen als aus politischen Gründen anzunehmen, beispielsweise um Strafzettel oder Steuern zu umgehen oder sich anderweitig den Behörden zu widersetzen. Anleitungen und Hinweise dafür werden im Internet verbreitet. Hier ist die Verschwörungstheorie keine wirkliche Mentalität, sondern zunächst ein Mittel zum Zweck.  

Zum anderen entstehen durch diverse Produkte auch Märkte, die bedient werden. “Chemtrails” könnten nur mit “Orgoniten”, “Chembustern” oder “Cloudbustern” aufgelöst werden - solche Gebilde bestehen aus Kunstharz, Kupferrohren und Gestein. Eine wissenschaftliche Grundlage gibt es dafür nicht. Neben Büchern werden auch “Reichsdokumente”, germanische Heilmittel, Mitgliedschaften in „alternativen Krankenkassen“ und selbstgewählte Währungen vertrieben. Gerade berühmte Szenepersönlichkeiten wie Daniele Ganser, Ken Jebsen und Peter Fitzek profitieren finanziell von Verschwörungstheorien, die sie mitunter selbst verbreiten.

Legitimationsfunktion

Verschwörungstheorien werden genutzt, um sozial unerwünschtes oder abweichendes Verhalten zu rechtfertigen. Sie liefern Begründungen für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, offenen Antisemitismus oder Rassismus und für Beleidigungen von Vertreterinnen und Vertretern aus Politik und Medien. Wichtig ist, dass dieser Legitimation immer auch die Markierung vermeintlicher „Täter“ oder „Feinde“ auf der Grundlage der jeweiligen Verschwörungstheorie vorausgeht.

In extremen Fällen rechtfertigen sie die Anschaffung von Waffen, Gewalt oder sogar Mord, wie unter anderem Verbrechen in Georgensgmünd 2016, Halle/Saale 2019 und Hanau 2020 zeigen.

  • Kirchhoff, Christine (2020): "Das Gerücht über die Juden" - zur (Psycho-)Analyse von Antisemitismus und Verschwörungsideologie. In: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft [Hrsg.]:Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Antisemitismus, Band 8. Jena - online verfügbar auf idz-jena.de
  • Butter, Michael: Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien. Berlin, 2018.
  • Comparative Analysis of Conspiracy Theories: Leitfaden Verschwörungstheorien. European Cooperation in Science and Technology, 2020. Online verfügbar als PDF.
  • Dietrich, Kirsten: Sinnsuche zwischen Gut und Böse. Dradio Kultur, 2020. Online verfügbar bei Dradio.
  • Hepfer, Karl: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Bielefeld, 2015.
  • Peitz, Dirk: "Alles ist so, wie Du denkst". Interview mit Michael Butter zu Verschwörungstheorien und dem Attentat in Hanau. Hamburg, 2020. Online verfügbar bei der ZEIT.