Die eigene Wirklichkeit aufrechterhalten

Menschen neigen dazu, eher ihr Bild von der Wirklichkeit aufrechtzuerhalten, statt es durch neue Informationen zu verändern – ein Mechanismus, den Paul Watzlawick in seinem Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ 1976 sehr anschaulich beschrieb. Widersprüche werden dann ausgeblendet, negiert oder umgedeutet, damit das eigene Denken bestätigt werden kann.

Wer beispielsweise glaubt, dass alle Journalisten und Regierungen in jedem Falle lügen, der oder die wird eher eine Geschichte glauben, die ein völlig anderes Bild der Wirklichkeit erzählt, als seriöse Medien und offizielle Quellen berichten. Argumente und Gegenbeweise werden dann nicht betrachtet, wenn sie von eben jenen Stellen kommen und daher von vorn herein als gefälscht gewertet werden.

Wer geneigt ist, deutschen Fernsehsendern und Zeitungen pauschal zu misstrauen, kann hingegen durchaus und paradoxerweise staatlich kontrollierten russischen Medien oder verschwörungsideologischen Blogs unkritisch Glauben schenken, obwohl diese sich nicht an die Regeln von seriösem Journalismus halten, wie sie z.B. im Pressekodex formuliert sind.

Daher ist es wichtig, zu verstehen, wie Erkenntnisse gewonnen werden, und zu wissen,  woran man verlässliche Quellen erkennen und wie man Fakten selbst überprüfen kann. Doch Nachrichten- und Medienkompetenz allein sind nicht alles.

Soziale Grundbedürfnisse beeinflussen Urteile

Das Grundbedürfnis des Menschen nach Anerkennung, Wertschätzung und Zugehörigkeit ist ein wesentlicher Treiber beispielsweise dafür, welche Kleidung Menschen mögen, aber auch welche politischen Meinungen sie vertreten. Die Orientierung an anderen reicht auch über das hinaus, was Menschen mögen. Tatsächlich beeinflusst die soziale Umgebung auch das eigene Urteilsvermögen:

Der Psychologe Soloman Asch führte 1951 hierzu ein berühmtes Experiment durch: Eine Versuchsperson sollte gemeinsam mit anderen Teilnehmern die Länge von Linien einschätzen. Was die Person nicht wusste: alle anderen Personen waren instruiert worden, eine falsche Antwort zu geben. Dreiviertel der Versuchspersonen zweifelte daraufhin an der eigenen Urteilsfähigkeit und gab dann ebenfalls die falsche Antwort an. Die Anwesenheit anderer Personen führt zu einem Konformitätsdruck, nicht nur in der Äußerung, sondern auch im eigenen Denken. Seither wurde dieser Effekt in verschiedenen Abwandlungen immer wieder getestet und vielfach belegt.

Desinformation und menschliches Denken

Was menschliches Denken, Urteilen und Verhalten beeinflussen kann, ist in den letzten Jahrzehnten immer besser erforscht worden. Professionelle Propagandistinnen und Propagandisten nutzen diese Erkenntnisse aus der Psychologie, der Werbeindustrie und auch der militärischen Forschung. Die Fülle an Daten, die das Internet und die sozialen Medien dafür zur Verfügung stellen, ermöglicht es, Nutzerinnen und Nutzer gezielter mit Inhalten anzusprechen.

Je besser man den Menschen kennt, desto besser lassen sich manipulative Inhalte auf ihn zuschneiden. Aber auch generell bietet das menschliche Denken verschiedene Aspekte, die es möglich machen, auf alle Arten von falschen, unlogischen und irreführenden Geschichten hereinzufallen. Manipulative Bildmittel oder rhetorische Techniken nutzen diese Einfallstore gezielt aus. 

Manipulationsversuche gelingen jedoch nicht automatisch. Menschen können nicht einfach von außen gesteuert werden, da Informationen unterschiedlich aufgenommen werden. Eine erfolgreiche Beeinflussung und Überzeugung hängt von mehreren Faktoren ab: dem Vorwissen, der aktuellen Aufmerksamkeit, der psychischen Konstitution, einer (selbst-)kritischen Haltung und dem sozialen Hintergrund.

Wer die Fehleranfälligkeit menschlichen Denkens und die Manipulationstricks kennt, ist besser geschützt.


 

Warum Menschen oft nicht rational entscheiden und warum sie anfällig für Manipulationen sind, dafür haben auch die Psychologen Daniel Kahnemann und Amos Tversky eine treffende Erklärung geliefert. Für deren Theorie des menschlichen Denkens und Entscheidens erhielt Kahnemann 2002 den Nobelpreis – sein Kollege Tversky war zu dem Zeitpunkt bereits verstorben.

Grundsätzlich unterscheidet ihre Theorie zwischen langsamem und schnellem Denken. Während im langsamen Denken, im Nachdenken und Reflektieren, Menschen ihr Bild von der Wirklichkeit entwickeln, werden im schnellen Denken auf dieser Grundlage intuitiv Entscheidungen getroffen. Das heißt, je exakter das Bild der Wirklichkeit desto akkurater die Intuition.

Wer beispielsweise als Kriminalermittler nach Jahrzehnten der Arbeit und der stetigen kritischen Betrachtung seiner Urteile einen „guten Riecher“ für lügende Täterinnen oder Täter entwickelt hat, der hat nicht etwa ein mysteriöses Bauchgefühl, sondern ein hervorragendes Erfahrungswissen, auf welches das Gehirn schnell und direkt zugreifen kann.

Das schnelle Denken, auch Denksystem 1 genannt, ist auch beim Überqueren einer stark befahrenen Straße erforderlich. Wenn Menschen wissen, wie sich Autos und Fahrräder auf einer Straße bewegen, können sie blitzschnell berechnen, wie sie sicher über die Straße kommen. Im Alltag ist das eine nützliche Strategie des Gehirns. Solche Entscheidungen kosten wenig Energie und Zeit, es wäre unpraktisch, jeden Schritt zu überdenken. 
Aber schnelle Urteile können falsch sein. Sei es, weil das Wissen, auf dessen Grundlage geurteilt wird, ungenau ist, sei es, weil starke Emotionen, eindrückliche Wahrnehmungen, die Orientierung an anderen oder psychischer Stress das Nachdenken im Moment verhindern. In der Folge kann es zu Fehlwahrnehmungen und Fehlurteilen kommen. Der evolutionär entwickelte und im Alltag unverzichtbare intuitive Denkapparat birgt also die Gefahr einer ganzen Reihe typischer Denkfehler. Genau diese Mechanismen werden von Propagandisten, Populisten und Desinformationsakteuren gezielt ausgenutzt.

Eine Einschätzung oder eine Entscheidung kritisch zu reflektieren, ist oft erst dann notwendig, wenn die schnellen Urteile offensichtlich nicht funktionieren. Um festzustellen, was dafür die Ursache war, muss man innehalten und das langsame Denken bzw. das Denksystem 2 – wie Kahnemann und Tversky es nennen – benutzen.

Wenn man beim Überqueren der Straße einen Unfall erlebt und im Nachhinein feststellt, dass man in diesem Moment mit ganz anderen Gedanken woanders war, ist man gut beraten, es beim nächsten Mal nicht wieder so zu machen. In vielen anderen Situationen ist es viel leichter, die eigene Fehleinschätzung zu übersehen oder nicht zuzugeben.

Reflektieren ist für das Gehirn energieaufwendig, braucht Zeit und Konzentration. Leicht ist das Gehirn davon abzulenken, denn es ist evolutionär darauf geeicht, auf aktuelle Geschehnisse zu reagieren. Insbesondere laute und schrille Eindrücke, negative Emotionen und als gefährlich wahrgenommene Situationen lenken das aktive Nachdenken ab und aktivieren das Denksystem 1.

Aus diesem Grund verleiten Signaltöne vom Smartphone dazu, von einem Gespräch oder der Arbeit abzulenken. Aus demselben Grund ist es in stressigen Situationen, in denen viele Dinge gleichzeitig passieren, schwer einen klaren Gedanken zu fassen. Und es ist eben dieser Mechanismus, den jene nutzen, die mit überspitzten Überschriften, emotionaler Sprache oder krassen Bildern Aufmerksamkeit gewinnen, Meinungen beeinflussen oder Klicks in den sozialen Medien einheimsen wollen.

Das schnelle Denken wird auch aktiv bei unmittelbaren emotionalen Reaktionen auf Social-Media-Posts oder bei einer raschen Einschätzung, ob man etwas für glaubwürdig hält. Beim Scrollen durch die Timeline nimmt man in kurzer Zeit eine Menge Informationen wahr und beurteilt sie im Sekundentakt nach interessant, lustig, richtig oder traurig. Ohne ein Anhalten und kritisches Nachdenken können solche Einschätzungen auch fehlerhaft sein.

In der Kommunikationswissenschaft wird dieser Verarbeitungsweg von Medieninhalten mit halber Aufmerksamkeit als sogenannte periphere Route bezeichnet. Aus der Erforschung von Medienwirkung ist zwar bekannt, dass Überzeugungen, die man sich auf diese Weise angeeignet hat, weniger stabil sind, als wenn sie auf der primären Route mit aktiver Verarbeitung bzw. mit dem Denksystems 2 gewonnen wurden.

Zugleich aber haben psychologische Experimente immer wieder bewiesen, dass eine Aussage – gerade wenn sie nebenbei wahrgenommen wird – für umso wahrer gehalten wird, je öfter man sie hört. Dieser sogenannte Effekt der Wahrheitsillusion ist so robust, dass auch ein hoher Bildungsgrad nicht davor schützt. Propaganda und Populismus machen sich auch diesen Effekt zunutze.

Wenn etwa seit Jahren immer wieder behauptet wird, dass alle Medien lügen würden, dann setzt sich diese Einordnung auch aufgrund dieser ständigen Wiederholung mit der Zeit eher als Wirklichkeit im Denken fest, wird zur Grundlage intuitiver Urteile und daraus wachsendem Verhalten. Eine Folge der jahrelang propagierten Erzählung ist die gestiegene Anzahl an Angriffen auf Pressevertreterinnen und Pressevertreter.

Kritische Selbstreflexion braucht Training. Das langsame Denken regelmäßig zu aktivieren und den Energieaufwand aufwenden zu wollen und halten zu können, hängt wesentlich davon ab, ob das individuelle Umfeld diese Fähigkeit vorlebt, fördert und honoriert. Wer etwa die Erfahrung machen musste, dass Irrtümer und Fehler allein zu Kritik oder Strafen führen, der oder die wird weniger motiviert sein, Fehler sich selbst und anderen gegenüber einzugestehen.

Wer hingegen erfahren hat, dass Irren menschlich und die Einsicht etwas Gutes ist, der oder die wird weniger Schwierigkeiten haben, vermeintliche Gewissheiten umzuwerfen und neue Erkenntnisse aufzunehmen. Konstruktive Selbstkritik und beständiges Lernen fallen zudem leichter, wenn man einen stabilen Selbstwert hat. Wer sich aufgrund schwieriger Sozialisation, etwa durch Gewalterfahrungen, mangelndem Vertrauen oder Vernachlässigung, die eigene Selbstsicherheit mühsam erarbeiten muss, ist unter Umständen weniger offen dafür, die eigenen Vorurteile in Frage zu stellen und bestmögliche Erkenntnisse aufzunehmen.

Wertschätzung, Vertrauen, ehrliche Kommunikation, eine positive Fehlerkultur, Empathie, Beteiligung und soziale Geborgenheit sind daher die Basis für eine demokratische Kultur – und damit auch Teil einer erfolgreichen Prävention gegen Desinformation und Propaganda.

 


 

Quellen und Weiterführendes

Warum Desinformation, Propaganda und Verschwörungsglaube verfängt

Über Gruppendruck und das Asch-Experiment

 Zum menschlichen Denken

Kognitive Fehlurteile

Arten der Verarbeitung von Medieninhalten